An den Anfang und das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit!

3 Haus und Bühne - die Frau in der gesellschaftlichen Realität und in der Tragödie

Ziel dieses Teils wird sein, ein möglichst umfassendes Bild der Frau in ihrer Zeit zu erstellen, das dann zu dem Frauenbild, das in der Tragödie vermittelt wird, in Beziehung gesetzt werden wird. Dabei werden wir aufzeigen, daß die Frauendarstellung der Tragödie vielfach nicht mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt.

3.1 Gesellschaftliche Realität - die Frau in Vergangenheit und Gegenwart

Bei den jetzt folgenden Ausführungen legen wir bestimmte Annahmen zu Grunde:

- In der Zeit der griechischen Poleis kam den Mythen und damit der Geschichte, denn als solche wurden die Mythen verstanden, eine gewichtige Rolle zu. Die Athener lebten nicht nur auf sich und ihre Zeit bezogen, sondern waren eingewoben in dieses Netz von Mythen. Insofern betrachten wir anhand von historischen Darstellungen, wie zu der entsprechenden Zeit die Rolle von Frauen definiert war und ob diese im Vergleich zum 5. Jh. Veränderungen aufweist. Denn wir wollen wissen, wie kontinuierlich sich das Frauenbild entwickelt hat, und ob es ggf. abweichende Traditionslinien gab, auf die sich die Tragödie berufen konnte.

- Frauen waren Teil der griechischen Gesellschaftsordnung, so daß ihre Darstellung nicht isoliert von dem bereits dargelegten Gesellschaftsaufbau und den erfolgten innen- und außenpolitischen Ereignissen betrachtet werden kann. Wir wollen versuchen, Frauen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zu beschreiben und auch untersuchen, ob und ggf. wie sich Aufgaben, Ansehen und Bedeutung von Frauen in deren Lebensabschnitten verändert haben.

- Die Polis Athen als solche war zu dem von uns betrachteten Zeitpunkt nicht isoliert. Schon vor dem 5. Jh. gab es durchaus Kontakte in Form von Handel und außerdem Metöken (Fremde), die in Athen lebten und arbeiteten. Diese Kontakte dürften nicht ohne Einfluß geblieben sein. Ob sich dieser Einfluß auch auf die Bedeutung und Rolle der Frau in Athen niederschlug, ist zu untersuchen. Von daher sollen auch Frauenbilder in anderen zeitgenössischen Gesellschaften betrachtet werden.

- In unserem Exkurs am Schluß des Frauenteils gehen wir noch auf besondere, da in der Öffentlichkeit stehende oder in der Öffentlichkeit diskutierte bzw. betrachtete Frauen ein. Dies hat den Hintergrund, daß wir davon ausgehen, daß Frauen im Athen des 5. Jh. keine große Öffentlichkeit besaßen. Sie waren, wie wir im folgenden zeigen werden, in der Regel beschränkt auf den Oikos.

 

Bei der Untersuchung der Realität von Frauen in der antiken Welt sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:

- Die vorhandenen literarischen Quellen befassen sich vornehmlich mit dem Leben der führenden Schichten, so daß Einblicke in das Leben von Frauen, die gesellschaftlich niedriger standen, noch schwieriger zu erhalten sind, als das für die Antike allgemein ohnehin der Fall ist.

- Weil der überwiegende Teil von literarischen Dokumenten aus der Antike von Männern verfaßt wurde, ist der Blick, den wir auf die Frauen des 5. Jh. werfen können, durchgehend ein männlicher. Was Frauen empfanden, dachten oder aber äußerten, wenn keine Männer anwesend waren, oder aber wie sie sich und ihre eigene Rolle einschätzten, darüber liegen keine Zeugnisse vor.

3.1.1 Die athenische Frau im 5. Jh.

Zuerst wollen wir unseren Blick der athenischen Frau widmen. Hierbei sollen sowohl die juristischen Bedingungen wie Ehe- und Familienrecht als auch das Alltagsleben der Athenerin untersucht werden.

3.1.1.1 Die rechtliche Stellung der Bürgerin

Bereits um 600 v.Chr. hatte der athenische Gesetzgeber Solon verschiedene Gruppen von Frauen unterschieden: anständige und unanständige. Mit der „anständigen", der Bürgerin, wollen wir uns zuerst beschäftigen.

Streitig ist, ob die solonische Gesetzgebung die Stellung der Frau verbesserte oder verschlechterte. Man wird hier zwischen den einzelnen Gruppen von Frauen differenzieren müssen. Einerseits ging die gesellschaftliche Aufspaltung der Frauenwelt einher mit einem gewaltigen Statusverlust von weiblichen Angehörigen der sozialen Unterschicht. Andererseits verschaffte sie der Bürgerin eine gesellschaftlich verankerte Position über dem Großteil der restlichen Bevölkerung, so z.B. Sklaven oder Metöken. Allerdings wurden Rechte und Pflichten der Bürgerin zementiert, die denen eines männlichen Bürgers nicht im mindesten vergleichbar waren.

Walter Jens umschreibt die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der griechischen Bürgerin wie folgt:

 

„Eine griechische Frau war, um es auf den Begriff zu bringen, nicht viel mehr als ein unmündig Ding: verheiratet - Ausnahmen bestätigen die Regel im allgemeinen nach der Pubertät, im Alter von 14 Jahren, mit einem Mann um die dreißig, eingeschworen auf die strikte Beachtung von Pflichten, das Keuschheitsgebot allen voran."

Die Frauen waren zivilrechtlich unmündige Personen, denen keinerlei Rechtsfähigkeit und nur eine äußerst eingeschränkte Geschäftsfähigkeit zukam. Der selbständige Abschluß von größeren Geschäften war ihnen ebenso versagt wie die Möglichkeit, vor Gericht zu prozessieren. Außerdem konnte die Bürgerin auf keinerlei eigene materielle Güter zurückgreifen. Sie besaß weder verfügbares Vermögen, noch konnte sie erben. Selbst auf die in der behandelten Zeit übliche Mitgift hatte sie rechtlich keinerlei Anspruch.

Zudem stand sie unter der totalen Verfügungsgewalt des Vormundes - normalerweise des Vaters und später des Ehemannes - ein Schicksal, das sie allem anderen unbelebten und belebten Hausrat des Oikos gleichstellte. Somit war das gesamte Leben der Frau durch eine Vormundschaft bestimmt, bei der nur ggf. der Träger wechselte. Bei Eheschließung ging die Vormundschaft auf den Ehemann über, bei dessen Tod auf die nächsten Blutsverwandten oder aber, hatte die Frau Kinder, auf ihre Söhne oder deren Vormünder. Den gleichen Weg nahm auch die Mitgift. Unabhängig in welcher Situation - eine Verfügungsgewalt über sich selbst oder auch nur über die für sie bereitgestellten Mittel hatte die Frau zu keiner Zeit.

Eine Frau gehörte stets als Tochter oder Frau eines Bürgers zur Polis und der einzelnen Deme. Eine eigenständige Position hatte sie im Gemeinwesen nicht.

 

„Women were not recorded as members of a Deme (...) In everyday life, as in the festivals of the deme, a married woman derived her social relationship from her husband."

Der geschilderten Stellung entspricht es, daß z.B. die Eheschließung einer Frau ein bloßes Rechtsgeschäft war, das deren Erwägungen und Gefühle nicht berücksichtigte.

„(The women) was not a party to the contract but its passive object."

Im eigentlichen Sinne handelte es sich bei der Verheiratung einer Frau um einen Vertrag zwischen zwei Männern, nämlich dem Vater bzw. Vormund des Mädchens und dem zukünftigen Ehemann. Bei diesem Vertrag galten Vereinbarungen wie bei einem Garantieversprechen. Die Frau, selbst nicht Vertragspartei, ging zusammen mit ihrer Mitgift und der über sie bestehenden Verfügungsgewalt von dem Vater auf den zukünftigen Ehemann über. Ein Treueversprechen oder eine Form von priesterlichem Segen, der in Gesellschaften, die sich auf Götter berufen, bis heute nicht unüblich ist, war nicht vorgesehen. Die Eheschließung beschränkte sich ausschließlich auf die Vertragshandlung zwischen den männlichen Parteien Vormund und zukünftiger Vormund.

Unterstrichen wird dies noch durch die göttliche Ebene, wonach Hermes, der als Schutzherr bei der Überführung der Braut von ihrem alten zu ihrem neuen Heim fungiert, gleichzeitig der Gott des Handels, des Diebstahls und der gefundenen Gegenstände ist.

Die Ehe bildete in den meisten Fällen eine Vernunftverbindung aus politischen oder wirtschaftlichen Aspekten, die, wenn nur irgend möglich, Personen aus der gleichen sozialen Schicht verband. Das Mädchen dürfte verpflichtet gewesen sein, den Mann zu heiraten, den man ihr ausgewählt hatte. In vielen Fällen kam es hierbei aus vermögensrechtlichen Gründen zu Verwandtenbeziehungen zwischen Nichten und Onkeln. Da die Erhaltung oder Herstellung von politisch oder materiell günstigen Verbindungen über Familienbande eine große Rolle spielte, scheint nachvollziehbar, daß sich die Sympathie in den meisten Fällen bei über den Kopf des Mädchens und oftmals auch über den des zukünftigen Mannes hinweg vereinbarten Eheverbindungen in Grenzen gehalten haben dürfte.

Junge Frauen wurden in der Regel mit 13-15 Jahren mit einem mindestens 10 Jahre älteren Mann verheiratet. Daß sie dabei unberührt in die Ehe gingen, war von großer Bedeutung. Die Chancen einer nicht mehr jungfräulichen Frau auf Heirat waren äußerst gering. Dieser Anspruch an die jungen Frauen wurde äußerst restriktiv gehandhabt. In einem Solon zugeschriebenen Gesetz wurde verfügt, daß ein Mann, dessen Tochter bereits vor der Ehe Geschlechtsverkehr gehabt hatte, diese aus der Familie verstoßen und verkaufen konnte. Zu begründen ist eine solche Möglichkeit damit, daß die Tochter in so einem Fall ihren Wert verlor, da sie nicht mehr zur Ehe geeignet war. Die Motivation für die Aufzucht einer Tochter dürfte jedoch in erster Linie in ihrer späteren Verheiratung gelegen haben, um das Erbe - und zwar nicht nur im materiellen Sinne - weiterzugeben. Dies ist von noch höherer Bedeutung bei Bürgern, die „nur" über weibliche Nachkommen verfügten. Da die Menschen nicht unsterblich sind, wurde der Weitergabe geistiger und materieller Werte an Nachkommen hohe Bedeutung beigemessen, um etwas von sich selbst oder der Familie fortleben zu lassen und in fernere Generationen weiterzutragen. Das Rechtsgeschäft hatte für den Vater des Mädchens daher wohl den Hintergrund der Chance auf Enkel und damit auf die Weitergabe seines Erbes. Nicht zuletzt ist hier auch die Tatsache von Bedeutung, daß jedes größere Geschlecht sich von einem Gott ableitete. Das Aussterben einer Familie war in solch einem Fall besonders verheerend, da dann die göttliche Linie ausstarb.

 

„Durch all das wird die Heirat zum Bestandteil einer Männerwelt der öffentlichen Geschäfte, des Wettstreits um Ehre und Gewinn."

Wie der vorstehend angeführte Abschnitt bereits andeutet, wurde die Fortpflanzung und damit die Mutterschaft in der Ehe als bedeutendstes Ziel der Bürgerin angesehen. Der Zweck der Ehe galt mit der Geburt eines Kindes (besonders eines Sohnes) als erfüllt. Der Tod einer jungen Frau wurde daher auch besonders betrauert, da sie diese Rolle innerhalb der Gesellschaft noch nicht ausgefüllt hatte. Dieser Bestimmung trugen auch die vor und am Tage der Vermählung gezeitigten Riten Rechnung. So aß am Tag der Heirat die Braut, bevor sie auf den Bräutigam traf, eine Frucht mit vielen Samenkernen, die die Fruchtbarkeit symbolisieren sollte. Auch die Hochzeitsfeier, der sogenannte Gamos, ritualisierte und symbolisierte die sexuelle Initiation der Frau und damit ihren Weg ins Erwachsenenleben.

Die Rolle, die der Frau bei Empfängnis und Schwangerschaft zugeschrieben wurde, war hierbei - wie noch weit in das europäische Mittelalter hinein - eine rein passive. Der Frau wurde somit sowohl was die Eheschließung als auch was die Hauptzielsetzung der Ehe, die Erzeugung von Kindern, betrifft, immer nur die Rolle eines Mittels zuteil.

 

„The female’s role in childbearing is passive, like a fertile field receiving seed and rain, in which without conscious effort or understanding on her part, plants would eventually grow and then be harvested."

Trotz dieser geringen Bedeutung der Frau bei der Empfängnis, entschied die gesellschaftliche Stellung beider Elternteile ab Mitte des 5. Jh. darüber, ob ein Kind Bürger der Polis werden konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stellung der Frau hierbei ohne Belang. Im Zuge der stark ansteigenden Bevölkerungszahl in Athen war auch die Zahl der Vollbürger stark angewachsen. Vermutlich um diese Zahl zu begrenzen, wurde 451/450 unter Perikles ein Gesetz beschlossen, das vorsah, daß zukünftig nur noch solche Kinder Vollbürger werden konnten, deren beide Elternteile selbst Vollbürger waren. Es sollte wohl die Geschlossenheit der Bürgerschaft, die Abschottung der „Gleichen" und ihrer Abkömmlinge, fördern. Das Gesetz, dessen „Opfer" ironischerweise Perikles selbst wurde, wurde zu späterer Zeit wieder eingeschränkt.

Kinder unterstanden als Eigentum vollständig dem Vater, sie blieben wohl auch in seinem Haus, wenn die Ehe aufgelöst wurde. Bis zum Verbot durch die Solonische Gesetzgebung stand es einem Mann sogar frei, jedes seiner Kinder zur Tilgung von Schulden zu verkaufen. Ein neugeborenes Kind galt solange nicht als Mitglied der Familie, wie es nicht durch den Vater in einem feierlichen Akt in diese aufgenommen wurde. Mißgebildeten Kindern wurde die Aufnahme wohl regelmäßig versagt. Da sie als göttliche Strafe und schlechtes Omen gedeutet wurden, wurden sie in der Regel getötet oder aber ausgesetzt. Aussetzung drohte jedoch nicht nur behinderten Kindern sondern durch die notwendige Aufnahmeentscheidung auch gesunden Säuglingen - hier in der Regel Mädchen. Diese Praxis war bis in den Hellenismus nicht unüblich. Die Geburt eines Mädchens kann in Athen den Quellen zufolge kein Anlaß zur Freude gewesen sein, es sei denn es handelte sich um das einzige Kind. In ärmeren Kreisen scheint es üblich gewesen zu sein, sich dieser „unnützen Esser" durch Aussetzung zu entledigen. Familien oder aber Prostituierte und Hetären, die es sich leisten konnten, nahmen ein solches Mädchen auf und erzogen es, damit sie es später, im Wert gesteigert, als Sklavin verkaufen konnten oder aber es, sollte ihm eine etwas bessere Behandlung und Erziehung zuteil geworden sein, Hetäre wurde.

In der Regel war es üblich nur so viele Mädchen aufzuziehen, wie man glaubte als junge Frauen angemessen verheiraten zu können. Es wurde Wert darauf gelegt, der Tochter eine möglichst hohe Mitgift zuteil werden zu lassen. Dies verbesserte die Chancen, sie möglichst günstig zu verheiraten und damit die eigene Position zu verbessern. Die Aufzucht einer Tochter konnte daher schon in Anbetracht der später zu zahlenden hohen Mitgift äußerst kostspielig werden, denn der Staat gewährte nur Töchtern von verdienstvollen Männern eine Mitgift. In allen anderen Fällen blieb diese Ausgabe Angelegenheit des väterlichen Hauses. Dabei galt diese mehr als äußeres Zeichen für den Wohlstand der Frau, als daß sie dem einheiratenden Mann einen umfassenden wirtschaftlichen Vorteil gebracht hätte, da die Mitgift nur zum Lebensunterhalt der Frau verwendet werden durfte. Ob es vorgekommen ist, daß Ehemänner den angeblichen Lebensunterhalt der Ehefrau so hoch ansetzten, daß dabei die gesamte Mitgift oder ein großer Teil verbraucht wurde, ohne daß der Frau etwas davon zugute kam, ist nicht bekannt. Bei Scheidung oder Tod des Mannes fiel die Mitgift an den neuen Vormund - in der Regel ein Verwandter der Frau.

Obwohl, wie bereits deutlich geworden ist, die athenischen Ehe- und Familienbeziehungen sehr männerdominant ausgerichtet waren, konnte durchaus der Fall eintreten, daß eine Tochter die Fortführung des Oikos sicherte. Zwar kannte das athenische Recht durchaus die Möglichkeit der Adoption eines Bürgers oder Bürgersohnes, der dann auch volles Mitglied der adoptierenden Familie wurde, jedoch wurde von solch einer Möglichkeit bei Fehlen eines männlichen Erben scheinbar nicht allzu oft Gebrauch gemacht. In einem solchen Fall, wo eine Tochter als einziges die Nachfolgegeneration stellte, war es sehr wohl möglich, daß sie die Erbschaft antrat und das Eigentum sofort an ihren Ehemann, der in diesem Falle in der Regel ein naher Verwandter des Oikos-Vorstehenden war, und bei dessen Tod an ihre Kinder weitergab. Sie war weniger selbst Erbin als vielmehr Übermittlerin des Erbes. Nach Lefkowitz mußte dieser nahe Verwandte sogar seine Ehefrau verlassen, um das Mädchen zu heiraten, und damit den Oikos und das Vermögen weiterzuführen.

Innerhalb der eingegangenen Ehe hatte die Ehefrau sexuelle Beziehungen ihres Mannes zu anderen Frauen zu tolerieren. Ein Freiraum für den Ehemann, der der Ehefrau nicht zugebilligt wurde. Für eine Ehefrau war die Treue höchstes Gebot. Die Verführung einer Frau aber auch deren Vergewaltigung, hatte empfindliche Strafen für die Ehefrau und den beteiligten Mann zur Folge, obwohl auch bei Verführung immer dem Mann die aktive Rolle, der Frau dagegen ein passiver Part unterstellt wurde. Eine vergewaltigte oder ehebrecherische Frau wurde von ihrem Mann verstoßen und konnte sogar in die Sklaverei verkauft werden. Eine solcherart verstoßene Frau durfte keinen Schmuck mehr tragen und keine öffentlichen Opfer mehr darbringen. Pomeroy spricht sogar davon, daß ihr die Teilnahme an sämtlichen öffentlichen Feierlichkeiten versagt blieb. Interessant ist außerdem, daß die Vergewaltigung einer Frau milder bestraft wurde als die Verführung, die der betrogene Ehemann mit der Tötung des Geliebten der Ehefrau ahnden konnte. Entscheidend hierbei war wohl nicht nur die Gefahr, die Familie um unlegitime Nachkommen zu erweitern, die ja allesamt als Kinder des Ehemannes, und, nach dessen Akzeptanz, als Bürgerkinder gegolten hätten. Von Belang war auch die Tatsache, daß sich der Verführer im Gegensatz zum Vergewaltiger das Vertrauen der Frau erworben hatte und somit drohte, den engen Familienkreis und damit den gesamten Oikos zu beeinflussen.

Der oben bereits angesprochenen Verstoßung der Frau bedurfte es nicht unbedingt eines Anlasses. Grundsätzlich war es dem Ehemann möglich, die Ehe aufzulösen, indem er seine Ehefrau seines Hauses verwies. Ging das Scheidungsbegehren dagegen von der Frau aus, was rechtlich möglich war, mußte der Fall vor den Richter gebracht werden. Laut Pomeroy sind jedoch nur drei solcher Fälle aus dem klassischen Athen bekannt.

Selbst nach dem Tod des Ehemannes war dessen Ehefrau noch seiner Willkür unterworfen. Durch Testament konnte der Ehemann seine Frau und seine Töchter z.B. Freunden oder freigelassenen Sklaven überlassen. Dies kann jedoch auch als Ausdruck der Verantwortung gedeutet werden, da dadurch ggf. eine Verarmung der Frau und Kinder vermieden werden konnte.

Erstaunlich bei der doch sehr beschränkten Rolle der Frau ist die Tatsache, daß diese, obwohl rechtlich eigentlich Ding, trotzdem juristischen Schutz genoß. Die rechtliche Position stellte sie deutlich über eine Sklavin und machte sie für den Ehemann und die Gesellschaft als Hervorbringerin von weiteren Polisbürgern wert- und bedeutungsvoll. So mußten z.B. Männer, die Strategen werden wollten, Kinder aus gesetzlicher Ehe haben. Ein Mann, der von seiner Frau nicht geachtet wurde, genoß kein Ansehen in der Gesellschaft. Die körperliche Verletzung von Ehefrauen war unter Strafe gestellt und es waren sogar Strafen für den Fall angedroht, in dem ein Mann seine „ehelichen Pflichten" verletzte.

3.1.1.2 Alltagsleben der Bürgerin

Entsprach nun diese rechtlich sehr eingeschränkte Position der Frau auch deren Auftreten in der Öffentlichkeit und der Familie oder hatte sie im Alltagsleben und den über Gewohnheitsrecht geregelten Bereichen ein größeres Gewicht?

Frauen im klassischen Griechenland hatten eine durchschnittliche Lebenserwartung von 36 Jahren (die der Männer lag bei 45 Jahren). Die Kindersterblichkeit war außerordentlich hoch. Wie erwähnt wurden Mädchen in der Regel mit ca. 15 Jahren mit einem mindestens zehn Jahre älteren Mann verheiratet und brachten in der Regel mindestens sechs Kinder zur Welt.

Da Frauen die direkte Beteiligung an Politik und Verwaltung verwehrt war und sie keinerlei öffentliche Ämter bekleiden durften, unterschied sich die Erziehung von Jungen und Mädchen erheblich. Jungen wurden körperlich gefordert. Auch auf die Ausbildung von intellektuellen Fähigkeiten und, besonders in höheren Kreisen, auf das Erlernen der Redekunst wurde großer Wert gelegt. Neben dem Gymnasion, das als Ort des Zusammentreffens der Söhne freier Bürger galt, konnten diese noch das Didaskaleion besuchen, in dem gegen hohe Bezahlung Lesen und Schreiben vermittelt wurde. Solche Schulen dürfte es bereits seit Anfang des 5. Jh. gegeben haben - allerdings immer nur für Jungen. Ein staatlich gelenktes Erziehungssystem gab es nicht. Mädchen wurden von ihren Müttern in der Haushaltsführung mit besonderer Betonung der Tugenden Schweigsamkeit und Fügsamkeit unterwiesen. Teilweise wurden für die Haushaltsausbildung sogar Lehrer beschäftigt. Schulen in dem Sinne wie für die Jungen gab es für Mädchen im Altertum nicht. Cambiano geht in seiner Auslegung dieser unterschiedlichen Erziehung sogar so weit zu sagen, daß es Erziehung und Bildung nur für Jungen gegeben habe. Die gesamte Jugend des Mädchens sei nichts weiter als ein im Haus erfolgender Prozeß der Überwachung gewesen, um die Jungfräulichkeit des Mädchens bis zur Ehe zu bewahren. Die getrennte Erziehung von Jungen und Mädchen, die bis zur unterschiedlichen Verpflegung nicht nur der Kinder der verschiedenen Geschlechter, sondern auch der Mütter ging, je nachdem ob diese Söhne oder Töchter hatten, stieß auch bei vielen Zeitgenossen des 5. und 4. Jh. auf Ablehnung. Xenophon wie Platon und Aristoteles glaubten, daß die spartanischen Erziehungsbräuche den Mädchen zuträglicher seien. Xenophon etwa meinte, durch die körperliche Erziehung werde der Körper für die Mutterschaft in guter Verfassung gehalten. Auch ist z.B. für die Platonische Akademie wie für die Schule des Epikur und bei den Kynikern die Anwesenheit von Frauen belegt. Bis auf diese wenigen Ausnahmen blieb jedoch schulische Ausbildung und Philosophie eine Domäne der Männer.

Durch die in Athen vorherrschende Praxis der frühen Verheiratung der jungen Frauen trat die Konstellation ein, daß Söhne noch im Haus lebten und sich mitten in ihrer Ausbildung oder Erziehung befanden, während gleichaltrige Töchter bereits verheiratet und Mütter kleiner Kinder waren. Es bestand also ein starkes Bildungsdefizit zwischen Männern und Frauen, was noch durch die bereits angesprochene Tatsache der Verheiratung mit wesentlich älteren Männern bestärkt wurde, und die Frau gegenüber ihrem Ehemann stets nicht nur aufgrund des rechtlichen Status in die Rolle eines Kindes drängte. Die Notwendigkeit dieser Rollenverteilung wurde noch über Jahrhunderte gesehen.

Das Alltagsleben der Ehefrau beschränkte sich - in höheren Schichten in jedem Fall, in niederen soweit es der Ehemann nur irgend ermöglichen konnte - auf den häuslichen Bereich, der in Athen oftmals düster, schmutzig und unhygienisch war. Dem öffentlichen Bereich wurde die Frau soweit als möglich entzogen. Auch das Haus wurde noch in Frauen- und Männerwohnbereiche getrennt, wobei die Frauenbereiche möglichst weit von der Straße und den Räumen, die für Fremde zugänglich waren, entfernt lagen.

Die Arbeit, die die Frau im Haus zu leisten hatte, umfaßte die Herstellung von Mahlzeiten, die Säuberung des Hauses, Herstellung von Kleidung, das Kümmern um die Kinder und die Beaufsichtigung der Sklaven. Frauen höherer Schichten kam hierbei mehr die Aufgabe des Verwaltens denn die des Selbstagierens zu. Die Aufgaben unterschieden sich kaum von dem, was schon Homer den sterblichen Frauen als Aufgaben zugeschrieben hatte. Die Arbeit im Haus war zwar produktiv, eine gesellschaftliche Anerkennung hat sie den Frauen wohl aber dennoch nicht eingebracht, da es sich im Prinzip um die verachtete Arbeit von Sklaven handelte oder aber die Beaufsichtigung derselben zum Inhalt hatte.

Dennoch ist die Bedeutung dieser Tätigkeiten nicht zu unterschätzen. Die Frauen sicherten die Ernährung der Familie und damit der Gesellschaft durch die Bearbeitung von Grundnahrungsmitteln, z.B. durch das Backen, die Verarbeitung von Früchten und von Kräutern. „Gerade durch dieses Gebiet haben die Frauen zweifellos eine wesentliche Rolle für die Ökonomie der Familie und die der Gesellschaft gespielt."

Nicht selten wurde die Tätigkeit der Beaufsichtigung durch höhergestellte Frauen außerdem mit der Begründung abgewertet, man könne sie nicht zu körperlicher Arbeit heranziehen, da sie dies nicht gewöhnt seien.

Nach Sonnet-Altenburg soll der Ehefrau die Aufgabe zugekommen sein, das Geld in ihren Räumen aufzubewahren und den Thesaurus, den Tresor, zu bewachen. So wurde, obwohl die Tätigkeiten der Frau als Sklavenarbeit keine Beachtung fanden, ihre Verantwortung für den Besitz des Gatten sehr wohl als schwere Pflicht anerkannt. Eine Aufgabe, die auf eine gewisse Machtposition hindeutet, wohl aber ihre Grenzen darin gefunden hat, daß der Frau nicht die Möglichkeit gegeben war, eigenständig Gegenstände zu erwerben. Bezüglich der Position der Frau in Gelddingen ist sich die Forschung nicht einig. Auch Pomeroy, die darlegt, daß ein eigenständiges Handeln von Frauen auf dem Markt so gut wie ausgeschlossen war, räumt ein, daß Frauen mit ihrer Mitgift Eigentum erwerben konnten. Allerdings waren Frauen nur solche Vertragsabschlüsse erlaubt, die unter dem Wert des Gerstebedarfes für sechs Tage lagen. Diese theoretische finanzielle Eigenständigkeit war jedoch in keiner Weise verknüpft mit irgendeiner Form von Freizügigkeit. In den meisten Fällen dürfte aber zum Vertragsabschluß ein Gang in die Öffentlichkeit erforderlich gewesen sein.

Aber diese Form von Öffentlichkeit war Frauen durchgehend untersagt. Bürgerinnen durften das Haus nie ohne Begleitung verlassen und auch nur dann, wenn es unbedingt nötig war. Einkäufe wurden von dem Ehemann erledigt. Dies könnte zum einen durch die Absicht begründet gewesen sein, Frauen vor den Blicken Fremder und vor allzu vertrauten Kontakten zu schützen, dürfte aber andererseits auch den Hintergrund gehabt haben, daß man der Frau - dem Kind - eine solche Transaktion wie einen Handel nicht zumuten könne, da dies für sie zu kompliziert sei. Allerdings besaß die athenische Familie wohl zumindest eine Sklavin, um der Frau den Gang in die Öffentlichkeit zu ersparen. Nur ärmere Frauen waren nicht auf das Haus beschränkt, da dort keine Sklavin das Einkaufen oder das Wasserholen erledigen konnte. Es verwundert, daß man den Sklavinnen dann offenbar finanzielle Transaktionen zutraute. Scheinbar ging es also in erster Linie darum, die Bürgerin dem öffentlichen Raum zu entziehen. Dies wird sicherlich zum Teil Ausfluß eines Schutzgedankens gegenüber dem „schwachen Geschlecht", dem bei der Fortführung des Oikos so entscheidende Bedeutung zukam, gewesen sein. Fakt war jedoch andererseits, daß man der Bürgerin damit jede Form von Selbständigkeit nahm und sämtliche Außenkontakte unterband. Auch ein Austausch mit anderen Bürgerinnen war damit nicht möglich.

Die Teilnahme von Frauen an öffentlichen Festen ist umstritten. Eine besondere Rolle spielten die Frauen im Bereich der Totenbeisetzung und -klage. Der Bereich des Totenkultes, besonders Totenklage und Totenopfer, war von jeher Betätigungsfeld der Frauen. Während den Frauen der passive Teil der Vorbereitung der Bestattung und des Beklagens zukam, vertraten die Männer ursprünglich den aktiven Part, das heißt die Rache. Allerdings wurde die Zahl der Klageweiber durch Solon beschränkt. Auch durften nunmehr nur noch Frauen über 60 Jahre und enge Verwandte das Totenzimmer betreten und den Leichenzug durch die Stadt begleiten. Die bedeutende Rolle der Frauen im Bereich der Totenklage blieb zwar erhalten, jedoch wurde die Menge der beklagenden Frauen in der Öffentlichkeit reduziert. Während des Peloponnesischen Krieges fanden nochmals Einschränkungen in diesem Bereich statt.

 

„The fact that women are singled out by the legislation and that they are forbidden to lament during the part of the funeral ritual where they are most likely to draw attention to themselves is the most fascinating feature of the new laws. Clearly, women's prominent role in the rituals, particularly their loud laments as they passed through the streets of a town, was once accepted and is now being challenged. Why women in particular?"

Vermutlich ist auch das ein Aspekt der Verbannung der Frau in das Haus und des Schützens vor Blicken. In den Kriegszeiten des 5. Jh. wird aber auch zu berücksichtigen sein, daß die Rolle des Beklagens mehr von der Familie auf den Staat überging - vom weiblichen auf den männlichen Bereich. Allen Gefallenen wurde ein Staatsbegräbnis ausgerichtet, wobei ein (natürlich männlicher) Redner damit beauftragt wurde, öffentlich eine Klagerede zu halten, was zuvor, auch beim Tod von Kriegern, im Familienkreis geschah. Diese Klagereden machten das Begräbnis plötzlich vom privaten zum öffentlichen Ereignis. Es steht fest, daß sich durch solche Gefallenenreden die Rolle der Frau bei den Begräbnissen gerade im fortschreitenden 5. Jh. mit seinen kriegerischen Auseinandersetzungen weiter reduzierte. Die Gefühle und Äußerungen der beklagenden Frauen standen nicht mehr im Mittelpunkt der Totenehrung. Der Tote war für die Bürgerschaft als Teil eben dieser Bürgerschaft (und ggf. in seinem opferhaften Einsatz für sie) interessant und wurde auch als solcher geehrt. Das wird auch daran deutlich, daß nur noch ein geringer Teil der Rede der Person des Toten gewidmet war. Im Großteil ging es um seine Bedeutung für die Bürgerschaft und um die Bürgerschaft selbst - also um Selbstdarstellung der Polis.

Die Beziehung des Verstorbenen zu seinen Verwandten und die Bedeutung des Toten wurde nun in erster Linie durch den Redner und nur noch am Rande durch die beklagenden Frauen thematisiert. Die Frauen hatten auf dem Feld des Totenbeklagens keine „eigene Stimme" mehr. Sogar die Darstellung ihres eigenen Schicksals nach dem Todesfall übernahm in der Hauptsache der männliche Redner. Und diese Schilderung fiel denkbar knapp aus. Denn in der kriegerischen Polis mit ihren Idealen, die in den Epitaphien dargestellt wurden, hatte der Oikos und mit ihm die Frau keinen Platz mehr.

So z.B. Perikles in seiner Rede für die im Peloponnesischen Krieg Gefallenen:

 

„Soll ich auch noch der Frauen, die nunmehr Witwen geworden sind, gedenken und von der Frauentugend sprechen, so kann ich alles in die kurze Ermahnung zusammenfassen: erfüllet ohne Rest die Pflichten, die eure Natur euch zuweist, so wird man euch loben, und wenn von einer Frau, sei es im Guten, sei es im Bösen, unter Männern möglichst wenig gesprochen wird, so ist das ihr höchster Ruhm."

Besonders interessant sind solche Passagen über Frauen in Reden von Staatsmännern wie Perikles, da diese einen Einblick in Wertmaßstäbe und Normen der Gesellschaft geben.

Die rechtlich bereits dargelegte Trennung zwischen Mann und Frau wird durch dieses Zurückdrängen auch im gewohnheitsrechtlichen Bereich nochmals deutlich hervorgehoben und noch dadurch untermauert, daß Frauen auch politisch keinerlei Bedeutung und Mitbestimmungsrecht zukam. Die athenische Polis war ein ausgesprochener Männerstaat.

 

„Then of course, there was women's total exclusion from any form of political participation"

3.1.1.3 Außenseiter: Hetären, Sklaven, Fremde

Nachdem wir jetzt die rechtliche und gewohnheitsrechtliche Stellung der Bürgerin betrachtet haben, soll es im folgenden darum gehen, Frauen, die aus dieser Stellung herausfielen und freiwillig oder unfreiwillig den der Bürgerin vorgezeichneten Weg nicht gingen, zu beleuchten.

Prostituierte und Hetären waren gesellschaftlich akzeptiert. Das lag zu einem großen Teil an der in Athen vorherrschenden Sexualmoral. Wie bereits dargelegt, kannte das griechische Recht die monogame Ehe. Für den verheirateten Mann war es aber üblich und in den höheren Kreisen auch geschätzt, Prostituierte oder Hetären aufzusuchen oder aber homosexuelle Beziehungen zu meist wesentlich jüngeren Männern zu pflegen. Homosexualität war offenbar „...considered a natural fact of life. (...) One thing seems certain: at least among the upper classes homosexuality was not only a widespread practice but perhaps even a universal one and one that was certainly considered to have high cultural value."

Wie diese homosexuellen Kontakte, die sich im Idealfall nicht nur auf die körperliche Ebene beschränkten, sondern auch von geistigen Freundschaften begleitet waren, bezogen sich auch die Kontakte zu Hetären nicht nur auf den sexuellen Bereich.

Es handelte sich bei Prostituierten und Hetären nicht nur um Sklavinnen, sondern auch um freigelassene oder freigekaufte Sklavinnen, freie Nichtbürgerinnen und auch Bürgerinnen, die sich z.B. nach dem Tod ihres Ehemannes ihren Lebensunterhalt auf diese Weise verdienen mußten. Die Prostituierten mußten sich registrieren lassen und eine spezielle Steuer entrichten. Auch dies ist ein Hinweis darauf, daß ihre Tätigkeit von den staatlichen Organen akzeptiert war, zumal die Prostitution auf eine lange Geschichte zurückblickte und bereits in der archaischen Zeit in voller Blüte gestanden hatte. Prostituierte betrieben zum Teil eigenständig, zum Teil in Bordellen ihr Geschäft, wobei ersteres dazu führte, daß diese Frauen mit Geld umgehen mußten und z.T. ökonomisch selbständig waren. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Leben als Prostituierte ohne männlichen Schutz gefährlich und in jedem Falle sehr unsicher war.

Da die Prostituierten und Hetären in der Regel über keine Mitgift verfügten, die ihre Altersversorgung hätte sicherstellen können, zogen sie vor diesem Hintergrund meist mehrere eigene Töchter oder aber ausgesetzte Mädchen auf, die ihre Nachfolge antreten sollten. Der Erziehungshintergrund war der Gradmesser, der bestimmte, auf welcher Stufe ein Mädchen später tätig werden konnte. Besaßen Mädchen nicht nur große körperliche Schönheit, sondern waren musikalisch ausgebildet, und hatte man ihnen eine gewisse Geistesbildung zuteil werden lassen, genossen sie als Hetären oder „Gefährtinnen der Männer" großes Ansehen und wurden für die athenischen Männer „zu attraktiveren Gefährtinnen (...) als deren rechtmäßige Ehefrauen." Hetären betätigten sich bei Symposien, bei denen Bürgerinnen niemals zugelassen waren, und Festen als Unterhalterinnen, Tänzerinnen, Akrobatinnen und Musikerinnen, wobei sich ihre Aufgaben im Verlauf des Abends zumeist auch noch auf die sexuelle Ebene erstreckten.

Bedeutendste Vertreterin dieser Richtung dürfte Aspasia sein, die als Fremde nach Athen kam, dort als Hetäre arbeitete und später mit Perikles zusammenlebte. Aspasia war Ionierin und wurde 469 v. Chr. geboren. Da sie Fremde war, war ihr eine Ehe mit Perikles nicht gestattet (dieser war außerdem bereits verheiratet), und aufgrund des von diesem vorangetriebenen Bürgerrechtsgesetzes konnte ihr gemeinsamer Sohn nicht Vollbürger werden. Die Vollbürgerrechte soll ihm Perikles nach dem Tod seiner beiden ehelichen Söhne durch einen gesonderten Beschluß der Volksversammlung ermöglicht haben. Aspasia, die als Konkubine in Perikles Haus lebte, soll sich in der Stadt frei bewegt haben. Ihre Rolle an der Seite des gesellschaftlich hochstehenden Perikles soll eine bedeutende gewesen sein. Plutarch behauptet, Aspasia sei weise und politisch gebildet gewesen, weshalb sie selbst Sokrates mit seinen Schülern besucht habe, und Männer oftmals ihre Frauen mitbrachten, damit diese Aspasia zuhören konnten. Auch in Platons Menexenos erscheint eine Aspasia, die sehr gebildet ist, und von der Sokrates erklärt, daß sie seine und noch anderer Männer Lehrerin in der Redekunst gewesen sei. So habe sie sogar, davon handelt der Menexenos, eine Gefallenenrede ausgearbeitet, die sie als Frau doch selbst niemals halten konnte, die aber bei den Zuhörenden, denen Sokrates stellvertretend die Rede vortrug, auf Begeisterung stieß. Diese Begeisterung bezog sich vermutlich nur auf die Rede und in einem großen Kreis nicht auf die Person der Aspasia. Denn es sind weder öffentliche Auftritte der Aspasia überliefert, noch war das Echo bezüglich ihres Einflusses auf Perikles durchweg positiv. So stellten Kritiker fest, daß Aspasia aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeit eine Art Herrscherin(!) geworden sei. Sie soll auch der Gottlosigkeit bezichtigt worden sein und ist der Anklage nur mit knapper Not dank Perikles entronnen.

Ein Zusammenleben ohne verheiratet zu sein wie bei Aspasia und Perikles, war für das 5. Jh. keine ungewöhnliche Erscheinung. Da vor dem Peloponnesischen Krieg ein Männerüberschuß vorhanden war, und es außerdem die Heiratsschranken nicht ermöglichten z.B. eine Fremde zur Ehefrau zu nehmen, war erstens das Prostituierten-/Hetärenwesen sehr weit verbreitet, zweitens gab es außerdem die Möglichkeit, mit einer Hetären oder Fremden zusammenzuleben. Obwohl keine Ehe zustande kommen konnte, und auch die Kinder aus der Beziehung keine Bürger werden konnten, kamen Regeln für die Konkubine und den Bürger zur Anwendung, die denen einer regulären Ehe entsprachen, etwa Strafen bei Verführung oder Vergewaltigung.

In der Beziehung von Perikles und Aspasia kommt auch die Rechtsstellung der Fremden (Metöken) zum Ausdruck. Diese, oftmals Handwerker oder Händler, konnten zwar in Athen ungehindert ihr Gewerbe ausüben, sie entbehrten jedoch aller politischen Rechte und hatten eine gesellschaftlich schlechtere Stellung als die Bürger. Das attische Recht differenzierte offensichtlich nicht zwischen weiblichen und männlichen Fremden. Natürlich ergänzen sich aber für eine fremde Frau zwei Benachteiligungstatbestände.

Bei den weiblichen Sklaven Athens dürfte es sich um die rechtlosesten Geschöpfe des gesamten Gemeinwesens gehandelt haben. Als „andrapon" - Menschenfüßler - also bestenfalls äußerlich einem vollwertigen Menschen vergleichbar, oder als „pais" - Knabe, Kind -, worin eine völlige juristische Unmündigkeit zum Ausdruck kommt, waren Sklaven der Willkür total ausgesetzt. Als der, der noch im Alter Schläge bezieht, konnten sie wie Kinder jederzeit körperlich gezüchtigt werden, was bei freien Erwachsenen verboten war. Sklaven unterlagen totaler sexueller Willkür. Ihnen waren sämtliche politischen Rechte nicht zugebilligt, und sie waren von einem Großteil der öffentlichen Feste und auch von öffentlichen Plätzen ausgeschlossen. Sklaven stammten zumeist aus „Barbarenländern", aber auch bei Kriegszügen gegen andere griechische Poleis war es üblich, die Frauen und Kinder zu versklaven, während die Männer getötet wurden. Daß diese Frauen ursprünglich auch Bürgerinnen und die Kinder Nachkommen freier Bürger einer griechischen Polis gewesen waren, scheint kein Hindernis gewesen zu sein. Sowohl die versklavten Personen als auch die in Athen geborenen Sklaven hatten kein Recht auf Verwandtschaftsbeziehungen, standen also rechtlich ihr gesamtes Leben ohne Eltern bzw. Kinder, und damit isoliert, da. Sie ermangelten also beider Säulen, die den athenischen Bürger stützten: der Einbindung in die Polis und der Einbettung in einen eigenen Oikos.

3.1.2 Der Blick zurück: Frauenbilder der Vergangenheit

Die Polis Athen entstand nicht aus dem Nichts als Besiedlung eines neuen, unbewohnten Terrains. Sowohl die Stadt als auch die Gesellschaft blickten auf Vorformen zurück - auf Geschichte, die sich sowohl in der eigenen Gegend als auch in anderen Landstrichen abgespielt hatte, die aber in der athenischen Gesellschaft präsent war und wohl auch handlungsanleitende Wirkung gehabt haben dürfte.

Dem Frauenbild, das sich aus literarischen Quellen ergibt, sollen die gesicherten Erkenntnisse vorangestellt werden, die man für den Raum Athen für die Zeit vor dem 5. Jh. im wesentlichen aus archäologischen Funden besitzt. Dieses „Vorleben" in der Region wirkte unserer Meinung nach mit den durch die Literatur weitergegebenen Frauenanschauungen zusammen.

 

Die aussagekräftigsten Nachweise für das Leben von Frauen im Raum Athen im „Dunklen Zeitalter" (ca. 1200 bis ca. 900 v.Chr.) und der archaischen Epoche (ca. 900 bis 500 v.Chr.) sind archäologische Funde.

Danach dürfte sich bereits im Dunklen Zeitalter eine Rollenverteilung durchgesetzt haben, die das männliche über das weibliche Geschlecht stellte. So war die Frau nicht nur ohne politische und gesellschaftliche Rechte, sondern auch ohne den Schutz eines männlichen Verwandten der Willkür aller Außenstehenden ausgeliefert.

Der politischen Rechtlosigkeit und Beschneidung der persönlichen Freiheit wurde im Zuge der zunehmenden Verstädterung im 7. Jh. eine weitere Komponente hinzugefügt: die spürbare Verlagerung der Aktivitäten der Frauen in das Haus und damit die Beseitigung nahezu jeglicher Freizügigkeit.

Im Rahmen der eben genannten Verstädterung trat schon bald eine drückende Überbevölkerung auf. Die Auswanderungen zwecks Koloniegründungen reichten offensichtlich nicht aus, um den sprunghaften Bevölkerungszuwachs zu kompensieren. Es deuten alle Funde darauf hin, daß daher zur Begrenzung der Population weibliche Säuglinge und Kleinkinder getötet wurden. Wenn auch solche Maßnahmen in vielen vergangenen Kulturen als Mittel zur Bevölkerungsreduzierung herangezogen wurden, und man dies oftmals so gedeutet hat, daß einer Bevölkerungsexplosion am ehesten mit der Tötung des reproduzierenden Teils - also der Mädchen - begegnet werden kann, ist die Tötung der Kinder nur eines Geschlechtes unseres Erachtens aber auch ein Hinweis darauf, daß man über diesen „technischen" Aspekt hinaus dem anderen eine größere Bedeutung und von daher eine „Überlebensnotwendigkeit" zuspricht.

 

Nach diesen, auf die Region Attika beschränkten, Erkenntnissen, wollen wir die den gesamten griechischen Raum prägenden literarischen Quellen betrachten.

 

Die ersten Beschreibungen konkreter Frauengestalten finden wir bei Homer. Homer lebte aller Wahrscheinlichkeit nach im 8. Jh. v.Chr. im ionischen Kleinasien und ihm werden die Ilias und die Odyssee zugeschrieben. Homer greift bei seinen Epen wohl auf jahrhundertelang mündlich überlieferte Sagenstoffe zurück, die in ihrem Kern auf die mykenische Zeit zurückgehen. Allerdings nimmt die Darstellung Homers historische Elemente aus mehreren Epochen auf, von der mykenischen Zeit bis in die Gegenwart des Dichters. So sind die in der Ilias und der Odyssee dargestellten Verhältnisse wohl die Summe eines dreiviertel Jahrtausends. Dies war wohl nichts Außergewöhnliches. Die Lebensverhältnisse in dem Epos wurden zum besseren Verständnis oftmals der Lebenswirklichkeit des Sängers und hier dann Dichters angepaßt. So konnten Vorgänge ergänzt und etwas verändert werden oder aber Schwerpunkte auf andere Personen gelegt werden, um die Verständlichkeit der Handlung zu erhöhen.

 

„Die Epen erzählen uns deshalb wenig Gesichertes über die Ereignisse der mykenischen, wohl aber viel Nützliches über die Zustände der früharchaischen Zeit."

Hier ist eine Abgrenzung zwischen der Wirklichkeit der mykenischen und der archaischen Zeit sehr schwer möglich. Das war aber für das 5. Jh. auch nicht von Bedeutung, da für dieses der von Homer dargestellte Rahmen, trotz der Verwaschungen, Vergangenheit und also Geschichte darstellte.

Die von Homer betrachtete Gesellschaft ist die Welt einer wohlhabenden Schicht von Großbauern, die in der Ilias im Krieg, in der Odyssee im Frieden dargestellt wird. Es gibt einen König, dessen Stellung, obgleich bereits potentiell erblich, jeweils neu erstritten werden muß. Der Führer ist zugleich Gutsherr und Adeliger wie die anderen Besitzenden, mit denen er sich im Rat berät. Eine absolute Herrschaft liegt also offensichtlich nicht vor. Jeder Besitzende herrscht eigenmächtig über seinen Oikos, dem Haus und Land, Familie, Sklaven und Gefolgschaft angehören. Wer keinen Oikos besitzt oder nicht einmal Angehöriger eines solchen ist, hat eine gesellschaftlich nicht geachtete Position (z.B. Lohnarbeiter, Handwerker, Bettler). Die Sklaverei ist durchaus bekannt, wenn auch nicht allgemein verbreitet, und bildet nur eine von vielfältigen Formen persönlicher Abhängigkeit. Versklavung der Frauen und Kinder bei Eroberungen feindlicher Städte ist bereits üblich. Die Gesellschaft ist stark von einem patriarchalischen Bild geprägt, das von einem Konkurrenzdenken bestimmt wird. Das öffentliche Leben ist den Männern vorbehalten. Betätigungsfeld der Frau ist der Oikos, in dem sie allerdings wesentlichen Einfluß hat. Der Oikos ist somit einerseits Domäne der Frau, andererseits aber wesentliches Rückhaltelement beim Konkurrenzkampf der Männer. Je größer und bedeutender der Oikos, desto größer auch der Einfluß innerhalb der Gesellschaft. Dem kommt insofern besondere Bedeutung zu, daß die ansatzweise vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen scheinbar keinerlei Kontrolle ausüben, noch eine Sicherungs- oder Unterstützungsfunktion wahrzunehmen vermögen. Das Wertesystem steht auf dem Prinzip der individuellen Bewährung und Stärke. Und Rückhalt dieser Individualität ist der Oikos. Dieser spielt also eine außerordentlich wichtige Rolle.

Daher begegnen uns die meisten der in Homers Epen auftauchenden Frauen auch als Vorsteherin eines solchen Oikos - als Ehefrau. Die Ilias dreht sich im Grundproblem um eine Frau - die mit Menelaos verheiratete, aber Paris nach Troja gefolgte Helena. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß im 5. Jh. sowohl Herodot als auch Thukydides die Tatsache, daß wegen einer Frau - und sei es auch der Schönsten - Schlachten ausgefochten worden waren, als unglaubwürdig ablehnten. Herodot wies den Gedanken zurück, die Trojaner hätten jahrelang wegen einer fremden Frau gekämpft, und Thukydides hielt es für schlicht undenkbar, überhaupt wegen einer Frau Krieg zu führen. Vielmehr hätten die Griechen Troja bekriegt, um ihren politischen und wirtschaftlichen Einflußbereich nach Osten auszudehnen.

Wie auch immer seine „literarischen Nachfolger" die Rolle der Helena und damit der Frau einschätzten, Homer ging scheinbar davon aus, daß die Rechte des Ehemannes auf seine Ehefrau einen solchen Krieg rechtfertigten. Wie sehen nun diese Rechte und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Homers Epen aus?

Die ständige Verteidigungsbereitschaft und militärische Wachsamkeit innerhalb und außerhalb dieser in der Öffentlichkeit durch die Männer repräsentierten Gesellschaft ist sehr groß. Die Frauen haben zur Verteidigungsbereitschaft möglichst viele zukünftige Krieger zu gebären, die Mädchen werden auf die Ehe vorbereitet und es „bestand für alle reifen Frauen die Pflicht zu Ehe". Der Wert einer Frau bemißt sich nach Schönheit und deren persönlichen Vorzügen, und die Ehefrau wird in der durch Wettkampf bestimmten Gesellschaft der Männer als Beutestück und als Eigentum betrachtet. Die Heirat dient der Verbindung von möglichst einflußreichen Familien, wobei der Fortsetzung der männlichen Seite zumindest örtlich nicht der Vorzug eingeräumt wurde. Es gibt Fälle, in denen sich der Bräutigam im Haushalt oder Reich der Familie der Braut niederläßt und offenbar existiert auch die Konstellation, daß eine Tochter, selbst bei Vorhandensein von Brüdern, die Familiennachfolge antritt, und ggf. deren Ehemann die Thronfolge übernimmt.

Sowohl die Ilias als auch die Odyssee, die beide jedoch als Schwerpunkt Herrscherhäuser betrachten, was nicht aus dem Blickwinkel verloren werden darf, konfrontieren mit einer ähnlichen Sexualmoral wie sie auch bei der Darstellung des 5. Jh. offenbar geworden ist. Die Ehefrauen haben monogam zu sein, hier wird auf Treue größter Wert gelegt, während den Ehemännern Polygamie eingeräumt wird. König Priamos hat scheinbar mehrere Ehefrauen und Konkubinen, Odysseus macht gegenüber Penelope keinen Hehl aus seinen Liaisons mit Kirke und Kalypso, und als Agamemnon nach zehnjähriger Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, geht er selbstverständlich davon aus, daß Klytaimestra seine Konkubine freundlich begrüßen wird.

Die Aufgaben, die Frauen - auch der höheren Schichten - zukommen, sind wohl in erster Linie Tätigkeiten im Rahmen des Haushaltes, wo bei höhergestellten Familien noch Sklaven mithelfen. Die Konzentration der Männer auf den öffentlichen Raum, bedeutet bei Homer nicht den gleichzeitigen totalen Ausschluß der Frauen aus dieser Sphäre. Frauen haben zwar offenbar Zurückhaltung zu wahren, wie jedoch an Helena, Andromache und Penelope deutlich wird, ist es ihnen gestattet, sich auf Straßen, wenn auch in Begleitung, zu bewegen, und sich in den Räumen des Palastes aufzuhalten, in denen sich auch Männer befinden. Obwohl diese Frauen in den Homerischen Epen als Eigentum ihres Mannes zu betrachten sind, steht ihnen offensichtlich auch außerhalb des Oikos ein gewisser Freiraum zu. Und nicht nur dies: Agamemnon und Odysseus hatten scheinbar keine Bedenken, ihren Frauen während ihrer Abwesenheit das Königreich zu überlassen (wenn auch Klytaimestra unter Aufsicht eines Herolds stand). Die übertragene Herrscherrolle ist aber scheinbar nicht verbunden mit den Verhaltensweisen, die einem König zugeschrieben wurden. Penelope wird als die vollkommene Ehefrau dargestellt. Sie wartet zwanzig Jahre in Treue auf ihren Ehemann Odysseus, verhindert durch ihre Ablehnung einer neuen Ehe, daß das Reich einem Fremden zufällt und begeht trotz der Abwesenheit des Ehemannes keine unziemlichen Handlungen. Sie hält sich weitestgehend im Palast auf und begibt sich nur selten, und dann in Begleitung von Mägden oder des Sohnes, in die Öffentlichkeit.

 

„...Wundervolle Gewande mit klugem Geiste zu wirken,

Und der empfindsamen List, die selbst in Jahren der Vorwelt

Keine von Griechenlands schönlockigen Töchtern gekannt hat,

Tyro nicht, noch Alkmene, und nicht die schöne Mykene;

(keine von allen war der empfindsamen Penelopeia

Gleich an Verstand!)..."

Penelope wird also als außergewöhnliche, dem Idealbild entsprechende, und kluge Frau beschrieben, zu der Odysseus trotz des Versprechens der Unsterblichkeit durch Kalypso unbedingt zurückkehren will. Wie äußert sich diese Intelligenz Penelopes? Sie verhindert die Eheschließung mit einem Freier durch ein weitestgehend passives Verhalten. Sie will ihr Webstück beenden, bevor sie sich für einen Freier entscheidet. Penelope bricht jedoch nie aus der ihr als Frau zugewiesenen Rolle aus. Sie unternimmt keine aktiven Schritte, um die Freier zu vertreiben, die dabei sind, das gesamte Vermögen zu verprassen. Sie wird nicht tätig, um ihre Rolle zu verbessern, sondern um für Odysseus oder für den Sohn Telemachos den Oikos zu erhalten, bis diese selbst - Odysseus bei Eintreffen oder Telemachos bei Mündigkeit - die Führung voll übernehmen können.

 

„She plays a role in the story only in her son’s childhood and her husband’s absence."

Penelope wird in ihrem Handeln den Erwartungen gerecht, die an eine Frau im Oikos gestellt werden. Die Tatsache, daß die den „verwaisten" Oikos zwanzig Jahre lang erhält, ist bemerkenswert und scheint nicht üblich gewesen zu sein, sonst wäre Penelope nicht in dem Maße gelobt worden. Festzuhalten ist dabei jedoch, daß sie bei ihrer Abwehr niemals über die einer Frau gesteckten Handlungsgrenzen hinausgeht und mit diesem - einer Frau zukommenden - Verhalten dann auch ihr Ziel erreicht.

Die Darstellungen der von Homer vorgestellten Ehefrauen bleiben aber nicht seine einzigen Beschreibungen von Frauenleben. So liegen auch Darstellungen über Frauen anderer Gesellschaften vor, wo dem weiblichen Geschlecht andere Aufgaben und eine andere gesellschaftliche Stellung eigen sind. In der Odyssee beschreibt Homer die Gesellschaften, auf die Odysseus trifft. So z.B. die Kyklopen, denen jegliche Rechts- und politische Ordnung fehlt. Stattdessen leben die einzelnen Kyklopen in ihren Höhlen ohne gesellschaftlich übergeordneten Zusammenhang und verfahren willkürlich mit ihren Frauen und Kindern. Wenn Frauen bei Homer sonst noch Erwähnung finden, sind es meist isolierte Frauen, die nicht in einem gesellschaftlichen Gefüge stehen.

Die von Homer in seinen Epen dargestellten Verhaltensmuster lebten scheinbar auch in den folgenden Jahrhunderten im hellenischen Raum fort - ungeachtet der aufkommenden Vielfalt politischer und sozialer Veränderungen. Die charakteristische Rollenverteilung des Mannes als Krieger und der Frau als Mutter blieben vorhanden.

Sie wurde noch unterstützt durch allgemeine oder ratgebende Darstellungen der Folgezeit, etwa bei Hesiod. Aber auch dieser verfügt neben seinen allgemeinen Ausführungen noch über eine konkrete Frauenbeschreibung, die wir hier nicht vorenthalten wollen.

Er liefert uns nämlich die Beschreibung der überhaupt ersten Frau.

Hesiod, der im ausgehenden 8. oder frühen 7. Jh. als Hirte in Boiotien lebte und an den Höfen des Adels und bei Festen seine Lieder zum Besten gab, schildert in seinen Werken und Tagen im Gegensatz zu Homer die Zustände der unteren Schichten der Gesellschaft. Zusätzlich beschreibt er in seiner Theogonie die Entwicklung des theologischen Zustandes bis in seine Gegenwart.

In Werke und Tage erzählt er bei der Frage, warum das Leben der Menschen von Leid und Not beherrscht sein müsse, den Pandora-Mythos. Danach ersann Zeus als Übel, das über Prometheus kommen sollte, eine Jungfrau. Diese wurde mit Eigenschaften wie „grausames Begehren und gliederverzehrenden Gram (...) hündischem Sinn und betörender Schalkheit" ausgestattet und dem Bruder des Prometheus geschickt. Sie öffnete dort ihren Krug und brachte all das heraus, was für den Menschen von Übel ist u.a. Schamlosigkeit, Amoralität. Zuvor hätten die Menschenstämme auf Erden frei von Übeln, Mühsal und quälenden Leiden gelebt. Erst das Eindringen der Pandora in die Menschenwelt brachte alles Übel. Während Hesiod in den Werken und Tagen die Eigenschaften Pandoras nur auf diese selbst bezieht, werden sie in der Theogonie verallgemeinert dargestellt:

 

„Ihr entstammte das schlimme Geschlecht und die Stämme der Frauen,

Unheilbringend wohnen sie unter den sterblichen Männern,

ohne die schlimme Not zu teilen, aber das Wohlsein."

und

 

„Also hat auch die Weiber den sterblichen Männern zum Unheil

Zeus der donnernde Gott bestellt als schimpflicher Werke böse Genossen;..."

Hesiod, der selbst nicht in begüterten Verhältnissen lebte, und seine Zeit als ökonomisch und sozial ungerecht bezeichnet, verstand seine Werke auch als Lehrbücher für seine Zeitgenossen. Er beschrieb bestehende Zustände, zielte aber in erster Linie darauf ab, mit seinen Ratschlägen einen besseren Weg zu weisen. Die Frau tritt bei seiner Darstellung negativ hervor. Sie sei zwar nötig, um Nachkommen hervorzubringen (oftmals sei sie jedoch Gebärerin von so vielen Nachkommen, daß es die Familie in eine ökonomische Krise stürze) und habe den Mann im Alter zu pflegen. Im übrigen seien jedoch die meisten Frauen verschlagen und geldgierig, und es bedarf nach Werke und Tage viel Aufwandes, um eine rechte Gemahlin zu finden.

 

„Laß nicht ein Weib deinen Sinn, das den Steiß dreht, listig betören,

Gleisnerisch süß dich beschwatzend, den Blick auf den Vorrat im Hause,

Wer einem Weib vertraut, der Mann hat Vertrauen zu Gaunern."

Wie Hesiod ging auch der dichtende Philosoph Semonides im 7. Jh. davon aus, daß die Auswahl der rechten Frau großen Aufwandes bedürfe. Seiner Meinung nach gibt es verschiedene Frauentypen. Er verglich die Frauen mit bestimmten Tierarten. In seinen Ausführungen wird die gute Frau über die schlechten definiert:

 

„The pig woman is of course dirty; (...)the fox woman can’t distinguish between good and bad; (...)the donkey woman works and eats continually, and likewise when she comes to the act of love she accepts any partner; (...)the weasel woman is ugly, displeasing, thieving and impious; (...)the horse woman is lazy, an expensive luxury..."

Diese Aufzählung von entsetzlichen und abzulehnenden Frauentypen wird von Semonides noch fortgesetzt, bis er zu der Frauenform kommt, die am besten und vernünftigsten sei, da sie sich dem Mann und dem Haushalt vorbehaltlos widme.

 

„Die zehnte (Frauengeschichte handelt, d. Verf.) von der Biene. Wer sie heimführt,

ist glücklich; sie allein bleibt frei von jedem Makel.

Sie läßt des Lebens Güter blühen und gedeihen.

Geliebt und liebend altert sie mit ihrem Gatten

als Mutter stattlicher und ruhmbedeckter Kinder.

Weit ragt hervor sie aus dem Kreise aller Frauen,

und rings umfließt sie Anmut, das Geschenk der Götter.

Nur ungern nimmt sie Platz in einer Weiberrunde,

in der man von den Liebesfreuden sich erzählt.

Das sind die tüchtigen und äußerst klugen Frauen,

die Zeus als Glücksgeschenk den Männern gibt."

Die Mehrzahl der Frauen ist also bereits durch ihre Abstammung von Pandora negativ besetzt. Bei Semonides und Hesiod begegnen uns jedoch kaum konkrete Frauen, deren Leben und Handeln nachgezeichnet wird. Beide verfassen, was Frauen betrifft, Ratschläge und Lehren.

Seit Mitte des 7. Jh. agierten im griechischen Raum eine Fülle von Tyrannen und Aristokraten, die ihre Position durch Ehebündnisse weiter zu festigen suchten. In der vorklassischen Zeit erfolgten soziale Umwandlungen, innenpolitische Kämpfe und Veränderungen von Regierungsformen. Die Gesellschaftsform der Polis entstand zu dieser Zeit, und im Zuge des explosiven Bevölkerungsanstieges kam es zu vorstehend erwähnten Koloniegründungen. In den meisten Fällen wurde die dargelegte Rollenverteilung trotz geographischer Veränderungen in die Kolonien übernommen. Die Rolle, die die Frauen bei diesen Gründungen spielten, ist eine ambivalente. Die Frauen der auswandernden Bürger waren wohl stets von dieser Kolonisation ausgenommen. Andererseits wurden für die Kolonien neue Frauen benötigt, so daß man sich meist die Frauen in den besetzten Gebieten aneignete, deren Männer man tötete. Daß diese Frauen nicht immer dem „Bienen-Ideal" von Semonides entsprachen, wurde bald offenbar. So lehnten es die karischen Frauen zeitlebens ab, mit ihren neuen Männern zu essen oder diese beim Namen zu nennen.

Da durch diese Kolonisationen neue Landstriche bevölkert wurden, und man oftmals auf andere Gesellschaften traf, gab es in der Folge viele Beschreibungen fremder Gesellschaften mit entsprechend fremden Frauenrollen.

Eine besonders fruchtbare Quelle ist hier Herodot, der von 484-424 (oder 414) v.Chr. lebte. Er war im kleinasiatischen Halikarnass geboren und hielt sich im Laufe seines Lebens in unterschiedlichsten Teilen des Mittelmeerraumes auf so z.B. auf Samos, in Athen, Unteritalien, Ägypten. Seinen Aussagen kommt insofern starke Bedeutung zu, daß seine Berichte in der Bürgerschaft sehr bekannt waren. So soll er in Athen und Olympia öffentlich aus seinen Werken vorgelesen haben und von Athen mit einem Preis von zehn Talenten ausgezeichnet worden sein.

Die wohl bis heute interessanteste Frauengesellschaft, für die es allerdings archäologisch keinerlei Nachweise gibt, findet sich in Herodots Beschreibungen: Die kriegerische Gesellschaft der Amazonen. Die Amazonen waren demnach in Anatolien beheimatet. Die Gesellschaft sei eine reine Frauengemeinschaft gewesen. Zur Fortpflanzung seien die Männer benachbarter Stämme aufgesucht worden. Neugeborene Jungen seien sofort getötet oder aber zu Krüppeln gemacht und als Diener beschäftigt worden. Bei Herodot wird dargestellt, daß sich die Amazonen nach einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den Männern der Skythen verbunden und mit diesen auch in Ehe zusammengelebt hätten. Die Amazonen hätten aber insoweit an ihrer ursprünglichen Lebensweise festgehalten, daß sie auch weiterhin auf Pferden ritten und auch als Kriegerinnen in die Schlacht zogen. Außerdem wird von Herodot überliefert, daß keine Jungfrau heiraten durfte, ohne daß sie vorher einen Feind getötet hatte. Interessant ist außerdem, daß bei dem Zusammenschluß der unterschiedliche Sprachen sprechenden Amazonen und Skythen die Frauen die Sprache der Männer angenommen hätten, da die Männer nicht vermocht hätten, sich die Sprache der Frauen anzueignen.

Die Griechen betrachteten, nach allem was wir wissen, die Amazonen als äußerst negatives Bild für alles, was zu geschehen vermag, wenn kriegerische Frauen die Macht haben. Eine Reihe von griechischen Heroen soll gegen die Amazonen gekämpft haben und zwar immer erfolgreich, so z.B. Achilleus, Herakles, Theseus. Wobei letzterer sogar eine Amazonenkönigin heiratete, sie jedoch erschlug, weil sie sich ereiferte, als er Phaidra zu heiraten begehrte, und ersterer die Tötung der fast ebenbürtigen Widersacherin im Nachhinein bereute. Aber hier sind wir schon wieder bei Homer...

3.1.3 Der Blick nach außen: Frauenbilder in Parallelgesellschaften des 5. Jh.

Der folgende Teil wird sich mit Frauen in Gesellschaften des 5. Jh. befassen, mit Gesellschaften also, mit denen die athenische Polis mittelbar (z.B. über Handelskontakte) oder unmittelbar (indem sie sich z.B. mit diesen im Krieg befand) Kontakt hatte. Vielleicht tauchen hier Frauenbilder auf, die durch die Athener in der Realität adaptiert oder aber in der Tragödie als leitende oder abschreckende Beispiele angeführt wurden.

Auch über die Stellung der Frauen in solchen „Parallelgesellschaften" liegen keine umfassenden Informationen vor. Am besten dokumentiert ist die Situation für Sparta, was insofern für uns auch am bedeutungsvollsten ist, da sich Athen und Sparta jahrzehntelang um die Vormachtstellung im Mittelmeerraum stritten, und von daher die Gesellschaften miteinander ständig in Berührung lagen.

Die Kodifizierung der Verfassung Spartas schreibt man dem mythischen Gesetzgeber Lykurgos im 7. Jh. zu. Dieser Gesetzeskodex blieb im wesentlichen während der folgenden Geschichte Spartas unverändert. Die Hauptaufgabe der spartanischen Frau bestand darin, für den Staat Kinder zu gebären. Von daher war die Ehe zwar nicht juristische Pflicht aber gesellschaftlich erwartet. Unverheiratete hatten finanzielle Strafen zu leisten und wurden zudem wohl auch gesellschaftlich ausgegrenzt.

Sowohl der Mann als auch die Frau waren bei der Eheschließung meist noch unter 20 Jahre alt. Von den Spartanern werden verschiedene Hochzeitsbräuche überliefert. So sollen junge Frauen und Männer zusammen in einen dunklen Raum gesperrt worden sein, und jeder Mann hatte die Frau zu heiraten, die er gerade „eingefangen" hatte. Auch Brautraub soll vor der Hochzeit üblich gewesen sein.

Interessant ist außerdem der Aspekt, daß vor der Vollziehung der Ehe das Mädchen kurzgeschoren und in Männerkleidern auf ein Strohlager gelegt wurde. Unmittelbar nach der Hochzeitsnacht, die keine ganze Nacht war, kehrte der Ehemann zu seiner militärischen Einheit zurück und schlief bei seinen Altersgenossen. Bis zum Alter von ca. 30 Jahren lebte der Mann auch weiterhin bei seiner Einheit. Ein gemeinsamer Hausstand der Eheleute bestand bis dahin nicht. Lykurgos hatte diese Regel des Getrenntlebens angeblich eingeführt, damit die Kinder der Eheleute genauso stark würden wie deren Begierde sei, wenn sie sich nur selten träfen. Diese Form der Ehe dürfte auch den Hintergrund gehabt haben, zu testen, inwieweit Kinder aus einer solchen Verbindung hervorgingen. Blieb die Ehe kinderlos, konnte sie jederzeit wieder aufgelöst werden.

Die Familie, bzw. der Oikos, hatte in dieser Gesellschaft eine sehr untergeordnete Bedeutung.

Ehebruch - auch durch die Frau - scheint nicht so streng geahndet worden zu sein wie in Athen, insbesondere dann nicht, wenn es sich bei beiden Teilen um spartanische Bürger handelte. Außerdem war es wohl nicht unüblich, die Frau mit einem anderen Mann zu teilen, wenn dieser z.B. nicht über männliche Nachkommen verfügte. Daß Frauen hier zwanghaft „ausgeliehen" worden wären, ist nicht nachgewiesen. Von staatlicher Seite wurde scheinbar jegliches außereheliche Verhältnis geduldet und auch jedes in der Ehe geborene Kind eines anderen Mannes akzeptiert, solange dieser nur spartanischer Bürger war. Denn so wurden mehr Bürger und damit mehr Krieger hervorgebracht. Es scheint auch zu Verhältnissen der spartanischen Frauen mit den Unfreien, den Heloten, gekommen zu sein, zumal es sich bei den Spartanern um ein Volk handelte, dessen Männer kriegsbedingt oft lange Zeit von zu Hause entfernt waren. Ob solche Verhältnisse bestraft wurden, ist nicht bekannt, allerdings wurden die Kinder aus solcher Beziehung nicht als spartanische Bürger anerkannt. Nach der Geburt wurden alle männlichen Neugeborenen auf körperliche Mängel untersucht. Hatte der Junge solche, taugte er nicht zum Krieger und wurde sofort getötet. Mädchen wurden offenbar alle aufgezogen.

Auch körperliche Beziehungen zwischen älteren Frauen und jungen Mädchen sollen in Sparta gebilligt worden sein. Der Grund hierfür ist vielleicht darin zu sehen, daß Frauen in einem allgemein höheren Ansehen als in Athen standen und so eine Beziehung ohne Mann denkbar war. Dies ging vermutlich jedoch nur, solange es eine spätere Verheiratung des Mädchens aufgrund von emotionaler Verbundenheit zu der Frau nicht ausschloß. Denn die Hervorbringung von Nachkommen war für die spartanische Kriegergesellschaft, wie gesagt, höchstes Ziel.

Die Mädchen wurden in Sparta genauso gut versorgt wie die Jungen, man erzog sie nicht zur Haushaltsführung, sondern sorgte bereits früh für die körperliche Ertüchtigung durch Laufen, Kämpfen, Speer- und Diskuswerfen. Scheinbar waren die Mädchen bei diesen sportlichen Übungen, wie ihre männlichen Altersgenossen auch, unbekleidet. Ob diese sportliche Betätigung der Frauen ihren Grund in der Stärkung und Erhaltung der Fortpflanzungsfähigkeit hatte, ist nicht belegt, aber zu vermuten. Die körperliche Ertüchtigung der weiblichen Bürger bezog sich nicht nur auf die Phase des Heranwachsens. Spartanische Frauen, denen ein Auftreten in der Öffentlichkeit nicht untersagt war, waren für ihre athletischen Leistungen berühmt. Die Frauen genossen auch im rituellen Bereich Öffentlichkeit und Gleichstellung. Allerdings ist diese Gleichstellung im rituellen Bereich auch in Athen z.T. vorhanden.

Den spartanischen Frauen wurden keine handwerklichen Tätigkeiten abverlangt. Hausarbeit und Fertigung von Textilien oder Haushaltsgegenständen war Aufgabe der Heloten. Die Bürgerinnen widmeten sich der Leitung des Haushaltes und der Kindererziehung und darüber hinaus dem schon angesprochenen Sport und der Musik. Spartanische Frauen konnten erben und auch Besitz haben; eine Erscheinung, die in der griechischen Stadtstaatenwelt in dem von uns behandelten Zeitraum ganz selten ist. Diese Besitzvorschriften führten dazu, daß im 4. Jh. etwa zwei Fünftel des Land- und Vermögensbesitzes Spartas in den Händen von Frauen lag. Offenbar kam es im Zuge dieser Besitzverlagerung auch zu Verhaltensänderungen. Den Frauen, denen in Sparta aktive Beteiligung am politischen Leben versagt war, - die politische Sphäre war auch hier eine reine Männerwelt - war die Möglichkeit gegeben, sich aufgrund ihres Vermögens gesellschaftlichen Einfluß zu verschaffen und durch Kleidung, Schmuck etc. Aufmerksamkeit zu erlangen. Außerdem förderten die gesetzlichen Regelungen zur gleichmäßigen Erbteilung die Tendenz zur Kleinfamilie. Durch diese Kleinfamilienstrukturen, die weniger zeitliche Aufmerksamkeit verlangten, und die durch kriegerische Auseinandersetzungen im 5. Jh. nahezu permanente Abwesenheit der Männer, traten die Frauen noch mehr in die Öffentlichkeit und es trat eine stufenweise Abkehr von der Fixierung auf die Rolle der Mutterschaft ein. Als Ausfluß dieser Erscheinungen und außerdem durch hohe Gefallenenzahlen, begann ab 429 v.Chr. die Bevölkerungszahl in Sparta dramatisch zu schrumpfen. Aristoteles schrieb denn auch den spartanischen Frauen die Schuld an dieser Entwicklung zu, da diese sich mit den Gesetzen Lykurgos’ und dem Hauptziel der Frau - der Mutterschaft - nicht identifiziert hätten.

Die Tatsache, daß sich die Frauen relativ frei in der Öffentlichkeit bewegen konnten und verglichen mit Athen umfassende Rechte hatten, läßt sich auf die Ausrichtung der spartanischen Gesellschaft zurückführen. Sparta war eine Krieger-Polis und die gesamte Männerschaft während der Feldzüge, die sich im 5. Jh. häuften, abwesend. Bei den relativ langen Abwesenheitszeiten der Männer oblag den Frauen die Entscheidungsgewalt über die große Zahl der unterdrückten Heloten. Auch die Konzentration der Bürger auf die Männergemeinschaft, mit der sie z.B. täglich speisten, läßt einen Grund für die größere Selbständigkeit der Frauen offenbar werden. Beide Faktoren bedingten scheinbar auch eine größere sexuelle Eigenständigkeit, die sich wiederum auf die sinkende Bevölkerungszahl auswirkte, da die Kinder aus Verbindungen der Frauen mit Heloten nicht als spartanische Bürger anerkannt wurden.

Diese im Vergleich zu Athen relativ eigenständige Position der Frau in der spartanischen Gesellschaft läßt sich noch in einer anderen Polis feststellen, deren Gesetze sich aus dem 7. oder 6. Jh. v.Chr. herleiten. In Gortyn auf Kreta kam es, aufgrund der militärischen Verpflichtung der Männer, den Frauen zu, Haus und Besitz zu verwalten. Ihnen oblagen auch die Arbeiten im Haus. Die Männer, wenn auch nicht so oft wie die Spartaner aufgrund ihrer kriegerischen Verpflichtung von ihrer Heimat getrennt, lebten ähnlich der spartanischen Gesellschaft weitestgehend in Männergruppen, die auch gemeinsam aßen und schliefen. Homosexualität spielte hierbei eine wichtige Rolle, stellte sie doch einen Schritt auf dem Weg ins Erwachsenenleben dar, wobei ein Knabe für eine gewisse Zeit einem älteren Bürger überantwortet wurde, und dieser ihn auch mit den Regeln der Männergemeinschaft vertraut machte. Nach zwei Monaten einer solchen Einweisung, der eine Entführung des Knaben vorausging, wurde dieser durch Übergabe einer Waffe und eines Gewandes in die Männergesellschaft aufgenommen. Für Mädchen sind keine besonderen Erziehungsrituale bekannt. Ihre Kinder- und Jugendzeit währte auch nicht lange, da sie in der Regel mit 12 Jahren verheiratet wurden.

Die Ehepartner wurden wohl auch hier durch die Eltern bestimmt, allerdings mit der Einschränkung, daß ein Mädchen eine solche Eheschließung mit einem Ungewollten abwehren konnte, indem sie dem Abgelehnten eine Entschädigung aus ihrem Erbe zahlte - wenn auch ein teurer, so doch immerhin überhaupt ein Teil aktiver Einflußnahme. Ein Mädchen, das einzige Erbin ihrer Familie war, hatte, wie auch in Athen, die Verpflichtung das Geschlecht fortzuführen. Sie wurde z.B. nicht Mitglied der Familie ihres Gatten. Die Möglichkeit der Einheirat in eine höhere Schicht war rechtlich nur Männern vorbehalten. Auch scheint das Domizilprinzip eine Rolle gespielt zu haben. War eine freie Frau mit einem Unfreien verheiratet und lebte in dessen Haus, waren auch die Kinder unfrei. Lebten beide im Haus der Ehefrau, galten die Kinder als freie Bürger. Kinder aus Verbindungen von freien Bürgern mit unfreien Frauen waren grundsätzlich keine rechtmäßigen Nachkommen. Auch Gortyn kannte die Leibeigenschaft. Eine weibliche Leibeigene wie auch ihre Kinder waren uneingeschränkter Besitz ihres Herren. Freie Bürgerinnen hatten in Gortyn eine weitaus höhere Stellung und besaßen eigenes Vermögen, wenn auch einen kleineren Erbteil als männliche Verwandte, und verwalteten dies eigenständig. Im Fall einer Scheidung erhielt eine Frau ihr Vermögen und die Hälfte der in der Ehe erwirtschafteten Werte. Man erkannte offenbar an, daß auch die Frau im Rahmen ihrer Arbeit Vermögen erwirtschaftete. Bei Gesetzesverstößen ihres Mannes oder Sohnes konnten auch Teile von deren Eigentum in den Besitz der Frau übergehen.

Auch die rechtliche Abwehrmöglichkeit der Frauen von Gortyn war umfassender, wenn ihnen auch keine politische Handlungsfähigkeit zugebilligt wurde. So war Vergewaltigung von Frauen wie von Männern strafbar. Allerdings war es auch die von Haussklaven.

Hatten auch die Frauen von Gortyn den Athener Bürgerinnen gegenüber weitergehende Rechte, so dürfte die gesellschaftliche Stellung der Spartanerin diejenige gewesen sein, die am weitesten ausgebaut war. Anders als bei Gortyn und Sparta, zu denen einiges Quellenmaterial vorliegt, existieren zur Rolle von Frauen in anderen Gesellschaften des 5. Jh. nur Bruchstücke. Als Vergleich sollen diese jedoch hier kurz angeführt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die meisten dieser Gesellschaften von der Mehrzahl der Athener nie gesehen worden sind. Entscheidend ist bei der Meinung über diese Gesellschaften also, was man sich über diese erzählte. Als Übermittler solcher erzählten Gesellschaftsbilder kommt Herodot eine besondere Bedeutung zu.

Herodot berichtet von den Persern, daß dort Knabenliebe üblich war. Außerdem habe jeder Perser eine große Zahl von rechtmäßigen Ehefrauen und eine noch größere Zahl von Kebsweibern. Es sei nämlich ein hoher Verdienst, möglichst viele Söhne zu zeugen. Der teilweise vorhandene Einfluß dieser Frauen auf Staatsentscheidungen bei den Persern wird bei Herodot stark kritisiert. Auch nach makedonischem Recht war die Polygamie informeller Art erlaubt, so daß eine Reihe makedonischer Herrscher so z.B. Philipp, der Vater Alexanders des Großen, über einen regelrechten Harem verfügten.

Das „Recht der ersten Nacht" war z.B. üblich bei den Libyern, wo sich alle heiratsfähigen Mädchen aufstellen mußten, so daß sich der König die Schönste auswählen konnte Es gab auch die Sitte, daß die Braut mit sämtlichen bei der Hochzeitsfeier anwesenden Gästen schlafen mußte. In Illyrien wurden laut Herodot die Mädchen vor der Hochzeit versteigert. In Thrakien kannte man offenbar das Schlachten der Lieblingsehefrau des Verstorbenen und die Sitte, daß unverheiratete Frauen sexuell ausschweifen durften. Daß die Mädchen vor der Ehe sexuelle Freizügigkeit genossen, scheint kein Einzelfall zu sein.

 

„Die jungen Töchter bei den Lydern führen nämlich alle ein unzüchtiges Leben und sammeln sich dadurch eine Mitgift, bis sie in die Ehe treten. Sie wählen selber ihren Gatten."

Die Babylonier kannten die Tempelprostitution wohlhabender Mädchen und bei den Libyern genossen Frauen, die mit vielen Männern verkehrt hatten, hohes Ansehen. Aber auch bezüglich der Weiterführung des Geschlechtes bzw. Thronfolge gab es laut Herodot erheblich von Athen abweichende Regeln. So z.B. bei den Lykiern:

 

„Einen merkwürdigen Brauch haben sie jedoch, der sich sonst nirgends auf der Welt findet: Sie erhalten ihren Familiennamen nach der Mutter und nicht nach dem Vater. Wenn man einen Lykier nach seiner Herkunft fragt, so nennt er den Namen seiner Mutter und zählt deren weibliche Vorfahren auf. Und wenn eine Frau aus dem Bürgerstande mit einem Sklaven Kinder hat, gelten sie als Freigeborene. Umgekehrt, wenn ein Bürger, und sei er noch so hochstehend, ein Weib aus der Fremde oder ein Kebsweib hat, sind seine Kinder unfrei."

In Karien galt ab dem 4. Jh. die weibliche Thronfolge. Ein Sohn konnte nur dann König werden, wenn er seine Schwester heiratete, was aber wohl üblich war. Hier sind Parallelen zum ägyptischen Recht feststellbar. Auch hier war im Königshaus eine Bruder-Schwester- Ehe vorgesehen, um das „Königliche Blut vor Verunreinigung zu schützen" . Die ägyptische Frau hatte im Vergleich zu Frauen anderer Gesellschaften eine außerordentlich starke Stellung. Sie besaß Geschäftsfähigkeit, das Recht, Erbschaften anzutreten, hatte die gleichen Rechte wie ein Mann, auch das der freien Wahl eines Partners.

Auch bezüglich kriegerischer Aktivitäten kommt gemäß Herodot Frauen in manchen Gesellschaften eine starke Position zu. So waren in Libyen Jungfrauenkämpfe üblich, wobei die Überlebenden mit Rüstungen geschmückt und geehrt wurden. Bewundernd und positiv schreibt Herodot außerdem über Artemisia aus Halikarnos und Kynna aus Illyrien, beide Töchter von Königen, von denen die eine Flottenbefehlshaberin und die andere Heerführerin gewesen sei. Artemisia sei „mutig und heldenhaft" und außerdem „waren die Ratschläge, die sie dem König gab, besser als die aller anderen Bundesgenossen" .

Es waren also weder im griechischen Raum noch darüber hinaus alle Poleis und Gesellschaften in der Form organisiert, daß Frauen die gleiche Rolle wie in Athen zukam, wenn auch in allen von uns angesprochenen Gesellschaften als mutmaßliche Hauptaufgabe der Frauen die Reproduktion der männlichen Bürgerschaft dominierte.

3.1.4 Theoretische Überlegungen - zeitgenössische Reflexion bei Platon und Aristoteles

Nach der Betrachtung der Stellung der Frau der Vergangenheit und der Gegenwart des 5. Jh. möchten wir nun anschauen, wie Platon und Aristoteles das weibliche Geschlecht sehen. Ausgangspunkt dafür ist, neben dem Bewußtsein, daß diese beiden Denker am Beginn unserer abendländischen Kulturtradition stehen (und von daher etwas zum Thema von ihnen zu erwarten ist), ihre Wirkung in ihrer Zeit: Beide leiteten im Athen des 4. Jh. Schulen - waren somit Träger einer Lehre, die an die (männliche - bei Platon in Teilen auch an die weibliche) Öffentlichkeit gelangte. Und diese Lehre wird, so steht zu vermuten, Vergangenheit und Gegenwart berücksichtigt haben, um daraus ggf. ein Modell zu entwickeln, das in die Zukunft weist.

Neben ihrer Eigenschaft als Anreger für uns Heutige sind Platon und Aristoteles also interessant als Spiegel des 5. und als Erzieher oder Meinungsmacher des 4. Jh.

Natürlich haben beide keine geschlossene Theorie des Geschlechterverhältnisses vorgelegt, und da es hier weder Ziel noch möglich ist, die gesamte Philosophie Platons und Aristoteles’ darzulegen, wollen wir somit den Frauenaspekt bei beiden Philosophen weitestgehend isoliert von ihrem Gedankengebäude betrachten.

Platon, Abkömmling einer der führenden Familien Athens, entwarf mehrere theoretische Staatsmodelle, die wohl alle seiner Auffassung entsprangen, daß die Ordnungen in den bestehenden Staaten durchweg übel seien und nur eine totale Neuordnung eine Heilung bringen könne.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Auffassungen, die Platon über die Rolle der Frau äußert, sich oftmals deutlich von der Lebensrealität in seiner Zeit unterscheiden. Allerdings handelt es sich bei den ausführlichen Darstellungen von Frauenaufgaben und -rollen ausdrücklich um utopische Werke Platons, die sich zwar sicherlich mit seiner Zeit auseinandersetzen, aber schwer konkret umzusetzen sind.

Platon greift in seinen Dialogen teilweise weit in die Menschheitsgeschichte zurück. So kommt im Symposion zum Ausdruck, wie sich Platon die Entstehung der Geschlechter vorstellt. So gab es drei Geschlechter unter den Menschen: (männlich-)männliche, (weiblich-)weibliche und männlich-weibliche Personen eines Zwittergeschlechtes. Die Gestalt all dieser Menschen war rund. Als sie übermütig wurden und die Götter angreifen wollten, teilte Zeus jeden von ihnen zur Strafe in der Mitte, so daß es nur noch männliche und weibliche Einzelwesen gab. Das Zwittergeschlecht war verschwunden. Nach dieser Teilung waren die Menschen sehr vereinsamt und sehnen sich seit dem nach ihrem alten zweiten Teil, so daß jeder Mensch einen Partner sucht.

 

„Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen."

Interessanterweise bezieht Platon dieses Streben der Menschen zueinander nur auf die Liebe zwischen Mann und Frau und die Liebe zwischen Männern. Die Anziehung zwischen Frauen, die ja auch vorhanden sein müßte, da auch die ehemals rein weiblichen Wesen in zwei Hälften geteilt wurden, spart Platon völlig aus. Hier scheint der Zeitgeist, der lesbische Liebe zumindest in Athen nicht zuließ, zum Tragen gekommen zu sein. Überhaupt ist offenbar nicht nur die weiblich-weibliche Liebe abseitig, sondern auch die männlich-weibliche ist gegenüber der männlich-männlichen minderwertig.

Im Symposion läßt sich Platon nicht weiter darüber aus, was die Teilung des Menschen bezüglich seiner Anlagen bewirkt hat. Es läßt sich aber der Schluß ziehen, daß wenigstens diejenigen Frauen, die Teil eines Zwitterwesens waren, gleiche geistig-seelische Anlagen haben, wie die männlichen Pendants.

Eine gewagte immanente These, die Platon in seinem Spätwerk Timaios nicht mehr auftauchen läßt. Dort ist von einer Teilung des Menschen keine Rede mehr. Vielmehr werde jedem Einzelmenschen eine Seele eingepflanzt und es „solle das überlegene Geschlecht dasjenige sein, welches in der Folge den Namen ‘Mann’ führen werde." Im Timaios wird die Überlegenheit des Mannes immer wieder betont und die Geringschätzung der Frau hervorgehoben. Am deutlichsten kommt dies wohl bei der Darstellung von Platons „Jenseitsvorstellungen" zum Ausdruck:

 

„Wer aber die ihm zukommende Zeit wohl verlebte, der werde wieder nach dem Wohnsitze des ihm verwandten Sterns zurückwandern und ein glückseliges, seinem früheren Leben entsprechendes Leben führen, verfehle er das aber, dann werde er bei seiner zweiten Geburt in die Natur des Weibes übergehen. Lasse er jedoch auch dann von seiner Schlechtigkeit noch nicht ab. dann werde er, der Verschlechterung seiner Sinnesart gemäß und der in ihm erzeugten schlechten Gesinnung entsprechend, stets die ähnlich beschaffene tierische Natur annehmen."

Deutliche Worte, die die Frau in einer Reihung zwischen den Mann und das Tier stellen und das Frausein als Bestrafung erscheinen lassen.

In dieser Form wohl das krasseste, was Platon über die Frau schreibt, aber von der Tendenz eingebettet in sein Spätwerk, das der Frau eine untergeordnete Stellung zuweist.

Das Bild, das Platon von der Frau und den ihr zukommenden Aufgaben zeichnet, scheint sich im Laufe seines Lebens zu wandeln. In seinem Frühwerk, z.B. dem Menon, werden der Frau von Platon oftmals die von der Bürgerin erwarteten Verhaltensweisen als Idealbild zugeschrieben. Die Frau habe eine gute Hausverwalterin zu sein, die die Ordnung innerhalb des Hauses zu erhalten und ihrem Mann gehorsam zu sein habe. Der Sinn der Ehe liege ganz in der Nachkommenschaft, und eine Form von Partnerschaft zwischen Mann und Frau war für Platon in diesem Zusammenhang kein Thema. In den mittleren Dialogen, zu denen die Politeia zu zählen ist, entwickelt Platon ein in den Möglichkeiten wesentlich weiteres sogar gleichberechtigteres Bild der Frau, während das Spätwerk zurückkehrt zu einem sehr eingeschränkten Aufgabenkreis der Frau und z.T. sehr harsche und negative Äußerungen aufweist.

Nie erreicht das Frühwerk die Krassheit des Timaios. Auch wenn der Frau der Platz im Haus unzweifelhaft zugewiesen wird, so geschieht dies nicht in negativer Form und die Eigenschaften der Frau werden teilweise noch herausgehoben. So sind im Menon nicht nur die Männer sondern auch die Frauen zu Gerechtigkeit und Besonnenheit fähig. Allerdings sollen diese Vorzüge beim Mann im Staat und bei der Frau im Hauswesen Anwendung finden. Die höchste Tugend des Mannes ist, daß er vermag, die Angelegenheiten des Staates zu verwalten.

 

„Willst du die Tugend des Weibes, so ist auch nicht schwer zu beschreiben, daß sie das Hauswesen gut verwalten muß, alles im Hause gut im Stande haltend und dem Manne gehorchend."

Dieser von Menon (im gleichnamigen Dialog) geäußerten Auffassung über die Frau, die das „Bürgerinnenideal" umreißt, schließt sich auch Sokrates an.

 

In Platons Politeia, die als Hauptwerk seiner mittleren Jahre gilt, wird der Handlungsradius eines Teils der Frauen erheblich erweitert. In seinem Philosophenstaat, den Platon dort entwirft, und in dem die Weisen den Staat zu Gerechtigkeit als höchstem menschlichen Gut und Ziel aller Staatsführung leiten, bestehen drei Bevölkerungsstände: der der Bauern und Handwerker, der der Wächter und der der Herrscher, der aus dem der Wächter hervorgeht.

Platon geht in der Politeia davon aus, daß die natürlichen Anlagen der Frau denen des Mannes ähnlich sind, so daß die Frau theoretisch an allen Angelegenheiten teilnehmen kann, aber dabei einer Einschränkung unterliegt: sie ist schwächer als der Mann. Platon spricht an keiner Stelle in der Politeia davon, daß Frauen geringere geistige Kräfte als Männer hätten. Er führt demzufolge aus, daß Frauen auch Herrscherinnen werden können. Allerdings geht Platon in seinen Ausführungen nicht ausführlich auf die Lebensweise der Herrscher und Herrscherinnen ein, sondern beschreibt schwerpunktmäßig das Leben des zweiten Standes - das der Wächter und Wächterinnen.

Ausgehend von den gleichartigen Anlagen von Mann und Frau haben diese auch die Möglichkeit, ähnliche Aufgaben wahrzunehmen. Allerdings soll wegen des Körpers Schwäche den Frauen Leichteres und den Männern Schwereres an Aufgaben zugeteilt werden. Grundsätzlich ist es Frauen jedoch auch möglich, an Kriegszügen teilzunehmen. „Mögen sich also immer die Frauen unserer Hüter entkleiden, da sie ja Tugend statt des Gewandes überwerfen werden, und mögen teilnehmen am Kriege und an der übrigen Obhut über die Stadt."

Demzufolge sollen Frauen und Männer auch die gleiche Erziehung in Musik und Gymnastik genießen, denn eine solche Erziehung sei die Beste, während die in der Zeit von Platons Niederschrift durchgeführte getrennte Erziehung verfehlt sei.

Platon entwirft ein völlig neues Gesellschaftsmodell. So postuliert er auch eine positive und negative Auslese der Menschen:

 

„...sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt; und die Sprößlinge jener sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht,..."

Aber auch das gesamte griechische Familienbild wirft Platon für den Wächterstand um. Abgesehen davon, daß es kein Privateigentum für diesen gibt, sind Frauen und Kinder allen gemeinsam. Es gibt also keine Kleinfamilie und keinen Oikos. Kinder und Väter kennen sich nicht. Diese Ansätze bilden eine völlige Abkehr vom athenischen System mit Abschottung der Frau, und den Kindern als Trägern des materiellen wie ideellen persönlichen Bürgererbes. Und es wird ein Modell vorgestellt, das sich von einer Teilung in zwei Menschengruppen - den Mann im Staat und der Frau im Oikos - verabschiedet. Denn Platon stellt zusammenfassend die Rolle der Wächterinnen und Wächter wie folgt dar:

 

„...daß die Frauen auf die beschriebene Art der Männer Genossen sein sollen beim Unterricht und in der Kinderzeugung und Obhut über die übrigen Bürger, so daß sie in der Stadt bleibend und ins Feld ziehend mit hüten und mit zur Jagd ziehen, wie es bei den Hunden ist, und sich den Männern in allen Dingen auf alle Weise nach Vermögen zugesellen, und daß sie so handelnd aufs beste handeln werden und nicht gegen die Natur des weiblichen Geschlechts in bezug auf das männliche, wie beide geartet sind, Gemeinschaft miteinander zu haben? - Das räume ich ein, sagte er."

Die breite Masse der Bevölkerung, die nicht der Herrscher- und Wächterklasse zuzuordnen ist, behält das Privateigentum. Hier bleibt auch die Struktur der monogamen Ehe und der Kleinfamilie bestehen. Diese Klasse ist in ihrer Gesamtheit von jedem politischen Einfluß ausgeschlossen. Prostitution, besonders das Hetärenwesen, für Platon Ausdruck einer verschwenderischen und degenerierten Gesellschaft, soll abgeschafft werden.

Aber obwohl Platon die Frauenbeteiligung auf zwei Stände beschränkt, ist die Politeia eine Revolution, denn sie billigt der Frau die Fähigkeiten und die Möglichkeiten zu, im Staat gleichrangig neben Männern zu agieren und räumt ein, daß Frauen bestimmter Schichten - hier die der zwei oberen - durchaus über gesellschaftlich akzeptierten Männern stehen können.

Die Nomoi, das Spätwerk Platons, macht einen Schritt zurück und ist weniger durch völlig neue Gesellschaftsansätze, wie sie in der Politeia zum Ausdruck kommen, geprägt. Der von Platon in den Nomoi vorgestellte Staatsentwurf - auch dieser wieder keine Beschreibung einer existenten Gesellschaft sondern ein Gedankenkonstrukt - teilt die Gesellschaft in vier Vermögensklassen ein. Es handelt sich um eine Agrargesellschaft, die eine bestimmte unveränderliche Anzahl von Wohnstätten umfaßt. Ämter werden durch Wahl vergeben.

Platon bezieht seine Vorstellungen bei den Nomoi nicht (wie bei der Politeia) nur auf eine Führungsschicht sondern auf die gesamte Gesellschaft. Knabenliebe und Prostitution werden in den Nomoi drastisch abgelehnt. Jeder soll in monogamer Ehe verheiratet sein. So sollen Männer im Alter von 30-35 Jahren heiraten. Das Hauptziel der Ehe ist die Kinderzeugung als quasi menschliche Pflicht:

 

„Nun ist das Menschengeschlecht etwas eng mit der gesamten Zeit Zusammengewachsenes, welches bis ans Ende ihr mitfolgt und mitfolgen wird, indem es auf diese Weise unsterblich ist, nämlich Kinder und Kindeskinder hinterlassend, aber immer als dasselbe und eins, durch Erzeugung an der Unsterblichkeit teilhat."

Wer sich nicht verheiratet, wird mit Geldbußen bestraft und verliert bestimmte Rechte. Frauen sollen mit 16-20 Jahren heiraten. Die Kleinfamilie ist Keimzelle des Staates und - durch die Kinder - der Menschheit überhaupt. Deshalb ist die Ehe auch nicht Selbstzweck, sondern muß die Partnerwahl „für den Staat und die in Verbindung tretenden Familien zuträglich sein" . Und daher wird das Ehepaar auch von gewählten Aufseherinnen 10 Jahre lang beaufsichtigt.

Scheidungen sind (von Ehemann oder Ehefrau initiiert) vor einem auch mit Frauen besetzten Gremium möglich, das aber erst auf eine Versöhnung hinzielt.

Trotz des Strebens nach Kindern ist die Frau jedoch nicht nur Mittel zum Zweck, um dem Ehemann Erben und damit gesellschaftliche Stellung zu sichern. Die Beziehung zur Ehefrau soll sich durch Vertrauen und Liebe auszeichnen, und Ehebruch (durch beide Seiten) ist streng verboten. Die Ehe ist also mehr eine Beziehung zwischen gleichberechtigten Partnern als ein Über- und Untergeordnetenverhältnis.

Die Erziehung von Jungen und Mädchen hat ähnliche Schwerpunkte. Bis zum 6. Lebensjahr werden sie gemeinsam erzogen, danach getrennt. Aber Mädchen lernen ebenso wie Jungen das Führen von Waffen. So sollen Frauen auch am Krieg teilnehmen. Wenn sie auch nicht jedesmal für den Militäreinsatz vorgesehen sind, lehnt es Platon jedoch ab, die Frauen wie in Athen völlig auszusparen. Auch Staatsaufgaben können Frauen übernehmen:

 

„Die Zeit der Verheiratung sei für das Mädchen vom sechzehnten bis zum zwanzigsten Jahre - die längste festgesetzte Zeit -, für den Jüngling vom dreißigsten bis zum fünfunddreißigsten; die der Staatswürden das vierzigste für die Frau, das dreißigste für den Mann; der Kriegsdienste für den Mann vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Jahre, für das Weib aber, in welcher Weise man etwa im Kriege sie zu gebrauchen für gut hält, nachdem sie Kinder zu gebären aufgehört hat, möge man das, was den Kräften einer jeden angemessen und ihr wohlanständig ist, ihr anbefehlen bis zum fünfzigsten Jahre."

Als Hauptaufgabe wird somit der Frau das Gebären von Kindern zugeschrieben, aber ihr stehen auch andere Wege offen, wenn sie diesen Lebensabschnitt hinter sich gebracht hat. Und die Teilnahme am Staatsgebilde wird der Frau nicht nur zugebilligt, sie scheint sogar extrem wichtig zu sein, und die Frauen machen eine wesentliche Säule des Staates aus:

 

„Zur Beglückung des Staates förderlicher ist es also, (...) alle Anordnungen gemeinsam für die Frauen und die Männer zu treffen."

 

„Außerdem aber habe ich darüber noch folgende Erwägung: ich behaupte, es sei, wenn es möglich ist, daß das so geschehe, jetzt bei uns zu Lande höchst unverständig, wenn nicht alle aus aller Kraft einmütig dieselbe Beschäftigung als Männer wie als Frauen treiben. Denn so ist und wird bei denselben Abgaben und Leistungen beinahe jeder Staat statt eines doppelten zu einem halben, und gewiß dürfte das doch ein auffallender Mißgriff des Gesetzgebers sein."

Platon sieht also eine Problematik der Vernachlässigung des Potentials der Hälfte der freien Bevölkerung. Seine Idealstaatsentwürfe wie auch Details seiner praktischen Lebensführung sind in seiner Zeit durchaus ungewöhnlich wenn nicht revolutionär.

 

Aristoteles lebt vom Ringen mit Platon und gewinnt, wie oben bezüglich der Tragödientheorie schon angesprochen, sein Profil in der Abgrenzung zum Lehrer, dessen Schule er bis zu Platons Tod angehörte.

So ist das zweite Buch der Politik eine Auseinandersetzung mit verschiedenen realen und fiktiven Staatsmodellen - vor allem denen Platons in der Politeia und in den Nomoi. Direkte und ausführliche Staatsentwürfe wie vor ihm Platon, macht Aristoteles nicht. Seine Aussagen über Frauen sind daher eher allgemeiner Natur und nicht eingebettet in Lebensbeschreibungen für eine bestimmte Gesellschaft.

Nicht einmal die Nomoi kommen, trotz der fehlenden Brisanz der Weiber- und Kindergemeinschaft, gut weg.

Vor allem die Politeia aber kann vor Aristoteles nicht bestehen. Deren wesentliche Merkmale der Güter- und, im gegebenen Zusammenhang interessanter, Weiber- und Kindergemeinschaft, werden verworfen. Nur das dem Einzelnen als zugehörig Erkennbare läßt ein Gefühl der Verantwortung dafür entstehen. Gemeingut wird von allen vernachlässigt.

Aber nicht nur das Argument dieser fehlenden Bindung spricht gegen die Politeia. Auch mit der parallelen Erziehung von Wächterinnen und Wächtern und der damit implizierten prinzipiellen Gleichartig- und -rangigkeit der Frau gegenüber dem Mann kann Aristoteles wenig anfangen. Denn „Endlich verhält sich Männliches und Weibliches von Natur so zueinander, daß das eine das Bessere, das andere das Schlechtere und das eine das Herrschende, das andere das Dienende ist."

Welches das Bessere ist, bedarf eigentlich keiner Erläuterung; trotzdem: „...das Männliche ist von Natur mehr zur Leitung und Führung geeignet als das Weibliche...".

Auch das Weibliche, die Frau, hat aber ihren Wert, ihre Aufgabe, „das ihr Gebührende", das „was sich für diese schickt". Wir zitieren aus der Nikomachischen Ethik:

 

„Denn der Mann herrscht gebührenderweise, und zwar auf dem dem Manne zustehenden Gebiete, und überläßt dagegen der Frau, was sich für diese schickt."

 

„Die Freundschaft ferner des Mannes mit der Frau ( ...) richtet sich nach dem Vermögen jedes Teils und gesteht dem Besseren das größere Gut zu und doch jedem das Gebührende;..."

Die nähere Bestimmung des der Frau „Gebührenden", ihr „Vermögen", ist nicht ausdrücklich definiert. Abstrakt ist es das Dienen, vermutlich die Führung des Haushaltes, das Heiraten.

Letzteres ist Ausfluß der naturgegebenen Entwicklung von Liebe oder Freundschaft zwischen Mann und Frau, aus der Angenehmes und Nützliches entspringt. Das nützliche Element ist in erster Linie die Fortpflanzung.

Über das Angenehme läßt sich „der Philosoph" nicht näher aus. Es mag der körperliche Genuß sein, es könnte in der Einbindung eines jeden in eine feste Rolle bestehen, oder es bezeichnet die Annehmlichkeit für die Männerwelt, nach getaner (Polis-) Arbeit in den gut geführten eigenen Oikos zurücksinken zu können.

Aristoteles ist nicht der Mann für gesellschaftliche Utopien. Vernunft und Empirie, das Mögliche und das Wahrscheinliche, Gründlichkeit und Begründung sind seine Sache.

Dieses Fehlen des utopischen Moments macht seine Lehre im Ganzen zum Stabilisator für das die Frau beschränkende, althergebrachte System, wie wir es oben dargestellt haben.

3.1.5 Exkurs: Öffentliche Frauen

Bislang sind uns die Frauen in der Hauptsache als Trägerinnen des häuslichen und besonders des familiären Bereiches begegnet. Diese Rolle zieht sich durch die Jahrhunderte und ist zu verschiedenen Zeiten und besonders auch in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich ausgeprägt, ohne jedoch völlig verlorenzugehen oder durch andere Aufgabenschwerpunkte wesentlich ergänzt zu werden. Ausnahmen bilden hier die von uns beschriebenen Gruppen der Prostituierten/Hetären, Sklavinnen und Fremden, die teilweise (so die Hetären) gesellschaftlich geachtet wurden, allerdings dennoch Außenseiter waren. Diese besetzen den öffentlichen Bereich stärker, ohne jedoch völlige Akzeptanz zu genießen. Prostituierte konnten sich z.B. genau wie Sklaven und Fremde frei bewegen. Dem gesellschaftlichen Ideal der Frau entsprach dies jedoch nicht.

Es scheint jedoch Frauengruppen zu geben, denen ein direkter Platz in der Öffentlichkeit angewiesen wurde, bzw. deren Tätigkeit oder Werk sie aus der typischen Frauenrolle heraushob. Solchen „öffentlichen Frauen" wird dieser Exkurs gelten.

3.1.5.1 Dichterinnen

Zeugnisse von Dichterinnen aus dem 5. Jh. liegen nicht vor. Allerdings wirkten in der archaischen Zeit verschiedene Dichterinnen, die auch in der klassischen Epoche zitiert und gepriesen wurden, und somit als Frauen, wenn auch bereits verstorbene, einen Einfluß auf den von uns betrachteten Zeitraum ausübten. Von vielen sind nur Fragmente oder die Namen überliefert. Die Kenntnisse, die über diese Dichterinnen vorliegen, sind überwiegend anekdotischer Natur und teilweise erst nach dem Tod verfaßt, so daß Einschränkungen den Wahrheitsgehalt betreffend gemacht werden müssen. Soweit bekannt, waren sie jedoch „...highly educated women, with defined intellectual intentions."

Die Dichterin, von deren Leben und Werk am meisten überliefert ist, ist Sappho von Lesbos, von der Platon gesagt haben soll:

 

„Einige zählen neun der Musen; doch wahrlich zu wenig! Siehe die zehnte dazu: Sappho von Lesbos ist’s."

Geboren wurde Sappho 612 v.Chr. als Tochter einer Aristokratenfamilie auf Lesbos. Später siedelte die Familie nach Sizilien über. Sappho genoß Erziehung und Luxus. Bereits mit 17 Jahren soll sie mit dem Dichten begonnen haben und rückte, vielleicht zumal sich männliche Dichter wie Alkaios von Mytilene für ihre Kunst interessierten, in das Zentrum des Interesses. Auf Sizilien heiratete Sappho den vornehmen und reichen Kerkylas, mit dem sie eine Tochter hatte und nach dessen Tod sie nach Lesbos zurückkehrte. Dort leitete sie bis ins Alter ein Haus für Mädchen, das sie selbst Musenheim nannte.

Sapphos Tod ist sagenumwoben. So soll sie, 55jährig, aus Liebe zu einem Seemann Selbstmord begangen haben, indem sie sich von der Laudakischen Klippe ins Meer stürzte. Was allerdings Auffassungen widerspricht, die behaupten, Sappho sei lesbisch gewesen. Pomeroy kommentiert beides dahingehend, daß das Gerücht des Selbstmordes wohl erst in der späten Antike in Umlauf gesetzt worden sei, um damit zu beweisen, daß die Dichterin doch Männern und nicht Frauen den Vorzug gegeben hätte. Lefkowitz schreibt dazu:

 

„Much of these informations seem to have been derived from interpretations by ancient scholars (all male) of her poetry, some also caricatures of her in comedy; the story of her death is obviously based on myth."

Die von Sappho verfaßten Gedichte waren in neun Büchern geordnet. Ein Großteil ihres Werkes ist bei dem Brand der Bibliothek von Alexandria zerstört worden. Die Bruchstücke, die noch erhalten sind, haben zum großen Teil in den Werken späterer Schriftsteller überlebt.

Die Dichtung der Sappho scheint außergewöhnlich gewesen zu sein. Sie erfand neue Metren, richtete ihre Gedichte oftmals an sich selbst und schrieb in verschiedensten poetischen Formen. Die von ihr verfaßten Dichtungen umfassen Hochzeitslieder, Naturschilderungen, Liebeslieder, aber besonders auch in höherem Alter Gedichte und Aussprüche philosophischer Natur wie:

 

„In dieser Welt kann man nicht auf Vollendung hoffen."

oder

 

„Denn, wer schön ist, erscheint nur, solang man

ihn ansieht, schön,

doch der Edle wird unversehens auch schön

noch sein."

Bei Platon heißt es, ihre weisen Aussprüche seien unsterblich und laut Sokrates war sie eine Sophoi, eine Weise.

Neben dem Verfassen von Gedichten widmete sich Sappho einer Schule, die sie für Mädchen auf Lesbos unterhielt und wo sie diese in Musik und Tanz unterwies. Laut Sonnet-Altenburg war Sappho nicht die Einzige, die sich dieser Aufgabe widmete. Die von Cambiano vertretene These, daß es sich bei dem Frauenkreis von Sappho um eine Gemeinschaft handelte, die die Mädchen zum einen durch das Erwerben bestimmter Fähigkeiten (Tanz, Gesang, Etikette) auf die Ehe mit einem Adeligen vorbereitete und zum anderen dem Kult der Aphrodite huldigte, ist umstritten.

Sappho ist als Dichterin der archaischen Epoche durchaus kein Einzelfall. Ihr Werk weist vielmehr darauf hin, daß sich noch weitere Frauen dichterisch betätigten. Soweit wir wissen, gehörten sie alle der Oberschicht an. Anders als bei einigen männlichen Dichtern, so z.B. Hesiod, liegen keinerlei Quellen dafür vor, daß Frauen ihre Gedichte verfaßten, weil sie mit den politischen und sozialen Verhältnissen nicht einverstanden gewesen wären. Lefkowitz bemerkt hierzu, daß die Dichterinnen niemals den Erwartungshorizont der Gesellschaft, der die Frau auch in der archaischen Zeit schon auf die Familien- und Haushaltsrolle verwiesen hatte, überschritten hätten, da sie ihre Gedichte zu Hause schrieben und damit den Bereich der Frau nicht verließen - ja daß ihnen überhaupt nur dieses Verbleiben in dieser Existenzweise die Möglichkeit gegeben hätte, Dichterinnen zu werden. Alle auf mehr Öffentlichkeit zielenden Aktivitäten wären verhindert worden. Eine Auffassung, der entgegenstehen dürfte, daß Sappho offensichtlich nach dem Tod ihres Mannes, was sowohl Ort als auch Tätigkeit betrifft, selbstbestimmt lebte. Teilweise wird gerade Sappho und die von ihr geleitete, in der Funktion umstrittene Schule, so gedeutet, daß adeligen Mädchen in der archaischen Zeit mehr Freiheit und mehr Öffentlichkeit zukam.

Die Tatsache, daß Sappho, wie auch immer sie gelebt haben möge, in der klassischen Zeit als weibliche Dichterin und somit als Frau Bedeutung zukam, ist erstaunlich. Denn obwohl sie vielleicht nicht über die räumliche Begrenzung der Frau - das Haus - hinausging, war sie auf Tätigkeitsfeldern aktiv, die einer Frau des 5. Jh. nicht eröffnet waren. Die von vielen Männern verehrten Werke Sapphos scheinen jedoch keine Nachfolgeerscheinungen gezeitigt zu haben. Im Athen der klassischen Zeit sind keine Spuren literarischer Aktivitäten von Frauen aufzufinden. Allerdings war das Bildungsgefälle zwischen den Geschlechtern innerhalb der höheren Schichten in Athen erheblich. Es dürfte also wenige so gebildete Bürgerinnen wie Sappho gegeben haben.

 

„Die Stadt, deren Männer für die bedeutendsten künstlerischen Leistungen des klassischen Griechenland gerühmt werden sollten, brachte nicht eine einzige Künstlerin hervor."

3.1.5.2 Philosophinnen

Mehr noch als in der Kunst sind Frauen in der Philosophie der Antike Ausnahmeerscheinungen. Bei den Kynikern wirkte die Philosophin Hipparchia, bei den Epikureern Themistra, und damit endet auch schon fast die Reihe der historisch verbürgten Philosophinnen.

Eine besondere Rolle kommt noch der (allerdings historisch nicht verbürgten) Philosophin Diotima in Platons Symposion zu. Dort wird sie, die nie selbst auftaucht, zwar nur durch Sokrates vorgestellt und es werden ihre philosophischen Auffassungen dargelegt, sie nimmt jedoch in dem Dialog eine wesentliche Rolle ein. Sokrates bezeichnet Diotima als „hierin und auch sonst sehr weise" . Sie habe ihn seinerzeit widerlegt und sei ihm Lehrerin gewesen.

Ebenfalls bei Platon erscheint die bereits angesprochene Aspasia. In der durch sie erdachten Gefallenenrede beschränkt sie sich nicht nur auf die Darlegung von historischen Tatsachen, sondern macht durchaus auch philosophische Ausführungen, so etwa über das Gute und den Charakter der athenischen Verfassung. Selbst für Platons Dialoge, in denen eigentlich Männer dominieren, ist das Auftreten dieser Frauen eine Außergewöhnlichkeit. Eine noch größere ist es für die athenische Gesellschaft des 5. Jh. Denn abgesehen von Diotima, für deren Existenz es keinerlei Nachweise gibt, ist Aspasia auf weiter Flur die einzige Frau, von der geistige Qualitäten und vor allem auch entsprechende Äußerungen (auch wenn wahrscheinlich nur im kleinen Kreis) überliefert sind.

Bezogen auf die Tatsache, daß die Griechen das Denken und Philosophieren als Arbeit auffaßten, mit der man zu hoher Achtung kommen konnte, ist die Tatsache, daß Frauen hier verschwindend gering oder gar nicht auftauchen, vielsagend.

3.1.5.3 Priesterinnen

Frauen scheinen im 5. Jh. eine Rolle in der Ausübung der Religion inne gehabt zu haben, die auch in der Öffentlichkeit zu Tage trat.

Die bedeutendste Frau, die mit Religion in der Antike in Verbindung gebracht wird, ist Pythia, auch wenn diese nicht im eigentlichen Sinne Priesterin war. Das Orakel von Delphi sprach durch den Mund einer Seherin - der Pythia -, die sich im „benebelten" Zustand befand, zu den Menschen. Ihre Antworten wurden jedoch von Priestern gedeutet, so daß diese Frau, die als Botschafterin des Gottes höchstes Ansehen genoß, letztlich ein Medium war, das auf die Auslegungen seiner eigenen Aussagen nicht den geringsten Einfluß hatte und einem männlichen Deutungsmonopol unterlag. Daß man sich überhaupt einer Frau als Medium bediente, wird z.T. als Relikt der ursprünglich an diesem Ort verehrten Erdgöttin Gaia und deren Priesterin Sibylle gesehen.

Religion war der Teil des öffentlichen Lebens, der, wenn auch männerdominiert, auch den Frauen entweder als Ausübende oder als Priesterinnen partiell offenstand, und in dem Frauen zu hoher Achtung kommen konnten.

So war es üblich, Frauen als Priesterinnen oder Tempeldienerinnen einzusetzen. Diese Aufgabe war in der Regel zeitlich befristet, aber teilweise auch erblich. Sie umfaßte meist eine Zeitspanne von ein bis zwei Jahren und setzte in den meisten Fällen voraus, daß das Mädchen noch Jungfrau war. Die Tempeldienerinnen oder Priesterinnen wurden für ihre Tätigkeit entlohnt. Lefkowitz begründet die Anforderung der Jungfräulichkeit mit der Erwartung, daß das junge Mädchen sich dem Gott wie eine frischverheiratete Ehefrau ihrem Ehemann völlig hingab und sich unterwarf.

Während die Frauen bei den öffentlichen Kulten oftmals nicht zugelassen waren, gab es noch Mysterienkulte, die keinesfalls nur einer kleinen exklusiven Minderheit offenstanden. Vielmehr war der Kreis derer, die an den oftmals mit komplizierten Initiationsriten verbundenen Mysterienkulten teilnehmen konnten, wesentlich größer als bei den öffentlichen Kulten, die vielfach auf Bürger beschränkt waren. Bei den Mysterien konnten auch Frauen, Sklaven und Fremde eingeweiht werden. Dies wird dahingehend gedeutet, daß sich Mysterienkulte an den Menschen als solchen wandten, während die öffentlichen Kulte, von den Bürgern zelebriert, der Selbstdarstellung und Erhaltung des sozialen Körpers der Polis dienten.

Da es in Athen eine Vielzahl öffentlicher Kulte und von Mysterien gab, sollen hier nur einige und dabei die Position der Frauen vorgestellt werden.

In Athen war es Sitte, daß der Göttin Athena jedes Jahr im Juli ein neuer Mantel gebracht wurde. Ausgewählte Jungfrauen webten neun Monate an dem Gewand.

An den Panathenäen, einem Fest, das alljährlich zum Geburtstag der Athena begangen wurde, konnten sowohl Frauen als auch Männer teilnehmen. Begleitet wurden die Prozessionen anläßlich dieses Ereignisses von jungfräulichen Mädchen adeliger Herkunft, die die Opferkörbe trugen. Die Jungfräulichkeit sollte hierbei die gnädige Aufnahme der Gaben ermöglichen und die Reinheit der Opfergeräte symbolisieren.

Ein religiöses Fest, das ausschließlich den Frauen vorbehalten war, waren die Thesmophorien, die zu Ehren Demeters gefeiert wurden und mehrere Tage andauerten. Vor diesem Fruchtbarkeitsfest mußten die Frauen drei Tage keusch leben und dies auch während des Festes bleiben. Die Frauen, die sich ihre Amtsträgerinnen aus den eigenen Reihen wählten, fertigten während der drei Tage einen Opferbrei, der anschließend auf die Felder gestreut wurde, und beklagten Demeters Schmerz über den Verlust der Tochter. Es war den Frauen an diesen Tagen gestattet, in „Obszönitäten zu schwelgen" . Die Männer waren bei dem Fest nicht zugelassen, hatten jedoch sämtliche Kosten der Feierlichkeit zu tragen.

Im Rahmen der Thesmophorien hatten die Frauen scheinbar die Möglichkeit, ihre eigene „Frauen-Polis" auf Zeit zu bilden. Sie konnten sich in dieser Zeit in der Öffentlichkeit bewegen und standen nicht unter der Kontrolle ihrer Männer. Allerdings war diese Gemeinschaft wie gesagt zeitlich sehr begrenzt und die dort verteilten Ämter hatten keine Gültigkeit in der Bürger-Gemeinschaft - ein faszinierendes und nach wie vor unklares Ventil.

Jetzt wollen wir uns noch beispielhaft den Frauen zuwenden, die dauerhaft im Dienste der Religion standen.

 

Athen besaß in verschiedensten Heiligtümern Priesterinnen.

Beachtenswert ist, daß sich anläßlich der Verurteilung des Alkibiades eine Priesterin gegen die Anordnung wehrte, diesen zu verfluchen. Sie sei zum Beten und nicht zum Verfluchen Priesterin geworden, habe diese gesagt - eine Weigerung einer Frau, die ohne Folgen blieb. Indiz für eine angesehene und gehobene Rolle der Priesterin.

Athena wurde als Schutzgöttin Athens in ihrem Tempel ebenfalls durch eine weibliche Priesterin vertreten. Diese Priesterin verfügte als bedeutende Persönlichkeit über erheblichen Einfluß - auch auf Entscheidungen, die die Polis betrafen. So unterstützte sie 480 v.Chr. den Entschluß, Athen zu evakuieren mit der Begründung, die heilige Schlange der Athena habe die Akropolis bereits verlassen.

Die Eleusischen Feiern, die sich großer Beliebtheit erfreuten, standen bereits seit 600 v.Chr. unter Kontrolle der Polis. Sie wurden im Laufe des 5. Jh. immer mehr umgestaltet und erhielten einen größeren Raum im öffentlichen Leben der Polis. So wurden die Eleusischen Feiern vom Archon basileus und zwei alten Adelsgeschlechtern jeweils im September ausgerichtet und standen allen Interessierten, die sich vorher hatten einweihen lassen und nun gegen eine nicht geringe Gebühr registriert wurden, offen. Für die Göttin von Eleusis wurde auch eine, wenn auch sehr geringe, Steuer erhoben.

Im Rahmen der Eleusischen Mysterien, die zu Ehren von Demeter und Persephone veranstaltet wurden, waren Frauen im heiligen Bezirk in Eleusis eingesetzt. War auch der Oberpriester ein Mann, der sein Amt lebenslang innehatte, so standen diesem doch mehrere Priesterinnen zur Seite. Diese Priesterinnen hatten ihr Amt ebenfalls lebenslang inne und durften auch verheiratet sein. Eine andere Gruppe der dort tätigen Priesterinnen lebte abgeschlossen und durfte keinerlei Kontakt zu Männern haben. Diese Priesterinnen wurden als melissai / Bienen bezeichnet. Leider ist nicht bekannt, welche Funktionen die unterschiedlichen Priesterinnen innehatten und welchen Anforderungen sie gerecht werden mußten. Interessant ist hier jedoch die Zweiteilung: Zum einen verheiratete Priesterinnen, die in der Öffentlichkeit tätig wurden; zum anderen wohl jungfräuliche, hermetisch abgeschlossene Priesterinnen - eine Aufteilung also, die in der Polis-Gesellschaft undenkbar gewesen wäre. Dort war verheirateten Bürgerinnen der Gang in die Öffentlichkeit versagt.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Bereich der Religionsausübung die Frau in einem völlig anderen Tätigkeitsfeld, das in Teilen sogar den Frauenaufgaben in der Polis widersprach, zeigt. Es hat den Anschein, daß dieser für die Frauen eine Form von Nische innerhalb der Polis-Gesellschaft bildete. Dort konnten Frauen offenbar in der Öffentlichkeit tätig sein und bestimmte Posten besetzten - beides Felder, die ihnen innerhalb des politischen und sonstigen gesellschaftlichen Lebens versperrt waren. Die größte Freiheit dürften die Bürgerinnen wohl im Rahmen des Thesmophorienfestes erfahren haben, das zum einen eine kleine „Frauen-Polis" aufbaute und zum anderen die Frauen bereits vor und auch bei dem Fest der Keuschheit verpflichtete. Die Frauen wurden also nicht nur aus ihrem räumlichen Tätigkeits- und Aufgabenfeld gelöst, sondern auch die von der Gesellschaft für die Frau vorgegebene Hauptaufgabe des Hervorbringens von Nachkommen wurde ihr für diese Zeit versagt. Es hat bei Betrachtung der religiösen Praxis den Anschein, daß den Frauen hier für ihre Unbedeutsamkeit im politischen Geamtgefüge der Polis eine Art Ausgleich zuteil geworden ist. In diesem Feld konnten Frauen von der Polis geduldet werden, denn die Religionsausübung war Ausfluß der Götterwelt und schließlich gab es ja auch weibliche Gottheiten. Daß jedoch die Religionsausübung durch Frauen eine Vorgabe der Götter ist, ist nicht zu erkennen. Vielmehr verweisen diese die menschlichen Frauen auch auf die Rolle der Mutter.

Vielleicht handelte es sich bei der Religionsausübung um eine Art Ventilbereich: einen Bereich, in dem Frauen tätig und in Teilen auch in der Öffentlichkeit beschäftigt sein konnten, und der von der Männer-Polis auch aus diesem Grunde akzeptiert war, ohne daß das Auftreten der Frauen hier die politische und gesellschaftliche Männerdominanz der Polis gefährdet hätte. Schließlich stand ja die Religionsausübung unter öffentlicher Kontrolle. So hätte wohl auch ein Thesmophorienfest jederzeit abgeschafft werden können. Die Mysterien aber, die man als Polis-freien Raum und damit die Polis tendenziell bedrohend wird bezeichnen können, ließen sich nicht abschaffen. Sowohl die Eleusischen Mysterien als auch die Beteiligung von Frauen bei der Religionsausübung wurde seit Jahrhunderten praktiziert. Beides war in der Gesellschaft fest verankert. Man konnte die Mysterien somit bestenfalls kontrollieren, was auch versucht wurde.

 

3.1.5.4 Göttinnen

Als letzter Frauengruppe wollen wir uns den Göttinnen zuwenden, deren Rolle uns, obwohl sie sich schwer mit sterblichen Frauen vergleichen lassen, bedeutungsvoll erscheint.

Die Rolle der Göttinnen „... kann uns auch generell über den sozialen Status der Frau in der damaligen Zeit wertvolle Hinweise geben. Dies, weil die religiösen Anschauungen einer Gesellschaft in vieler Hinsicht den Gesellschaftsaufbau widerspiegeln, dem diese Anschauungen entsprungen sind. Eine große Anzahl weiblicher Gottheiten mit hohem Status deutet z.B. darauf hin, daß die Frau generell in dieser Gesellschaft großes Ansehen genoß."

Die uns überlieferten Berichte von Göttern der Griechen ergeben sich größtenteils aus den Epen Homers und der Theogonie Hesiods. Die vorolympischen Götter, die wir hier vernachlässigen wollen, tauchen nur bei Hesiod auf.

Hesiods „...Ansichten über Götter und Menschen prägten die Vorstellungen der Griechen von ihren Göttern, gründeten aber wahrscheinlich selbst auf dem Glauben, der von der Bevölkerung in der Gesamtheit geteilt wurde; so konnte seine Theogonie zur maßgeblichen griechischen Genealogie und Entwicklungsgeschichte der Götter werden."

Sie ist auch insofern von Bedeutung, daß das olympische Göttergefüge auf Vorläufer zurückblickte, die weiblichen Gottheiten Raum eingeräumt hatten.

Die folgende Darstellung der olympischen Göttinnen kann nur eine zeitumspannende sein und erfaßt nicht das Götterbild des 5. Jh., denn eine Differenzierung bezogen auf einzelne Jahrhunderte ist hier aufgrund der Quellenproblematik kaum zu leisten.

Die Persönlichkeit der zwölf wichtigsten olympischen Götter und Göttinnen sei an dieser Stelle kurz zusammengefaßt:

Zeus, der Herr der Götter, gilt als Träger der Rechtshoheit und verbindet in sich Kraft und Gerechtigkeit. Er wird aufgrund seiner Macht zum Garanten von Recht und Ordnung in der Gesellschaft.

Seine Ehefrau ist Hera. Sie gilt als Beschützerin der rechtmäßigen Ehe und damit einer familiären Ordnung und einer Gesellschaft, die die Menschen davor bewahren soll, wieder in einen Urzustand der Wildheit zurückzufallen. Die Beziehung von Zeus und Hera wird als Dauerkrieg mit sexuellen Unterbrechungen dargestellt. Obwohl Hera im Unterschied zu Zeus stets treu bleibt, ist sie ihm jedoch nicht bedingungslos unterworfen, sondern fordert ihn heraus und überlistet ihn teilweise auch. Über die Geburt der Athena aus Zeus’ Haupt ist Hera dermaßen zornig, daß sie daraufhin ohne männliche Beteiligung den Hephaistos gebiert: im Gegensatz zu der kriegerischen Athena ein Krüppel und damit ein Symbol für die Folgen von eigenständigem Handeln von Frauen.

Hephaistos, der Gott des Handwerkes, ist mit Aphrodite verheiratet, wird von dieser aber aufgrund seiner Lahmheit verschmäht.

Aphrodite als Göttin der Liebe und Zeugung verkörpert einen grundsätzlich anderen Bereich. Schon ihre Geburt aus dem Schaum des Meeres, der die Geschlechtsteile des Gottes Uranos umgab, versinnbildlicht ihre Rolle als Göttin der Fruchtbarkeit. Als quasi Gegengöttin zur Schützerin der Ehe - Hera - wird sie mit erotischem Begehren in Verbindung gebracht und verkörpert, obwohl verheiratet, nicht im mindesten Ehe und Familie. Aphrodite begeht als einzige Göttin u.a. mit Ares, der aufgrund seiner Raserei und seines unstillbaren Tötungsdranges als Kriegsgott gilt, Ehebruch, was ihr als Liebesgöttin, zudem mit einem unvollkommenen Mann unglücklich verbunden, scheinbar nicht negativ angerechnet wurde.

Die Verbindung der weiblichsten der Göttinnen mit dem männlichsten der Götter wurde wohl als gleichsam natürlich akzeptiert.

Als Verkörperin der „unkontrollierbaren Urkraft der Sexualität" wird sie oftmals mit den orientalischen Fruchtbarkeitsgöttinnen in Zusammenhang gebracht. Die Gefährlichkeit, die Aphrodite zugeschrieben wird, macht vor allem die Tatsache aus, daß sie gut scheint, aber dabei Böses vollbringt. Eine Parallele, die auf die erste Frau Pandora verweist. Auch die Verbindung von sexueller Attraktivität, Leichtfertigkeit und Falschheit geht in diese Richtung. Allerdings ist in Platons Symposion die Rede davon, daß Aphrodite doppelter Natur sei. Als Aphrodite Uranos, von Uranos ohne Zutun einer Frau gezeugt, steht sie für die rein geistige Liebe, als Aphrodite Pandemos, hervorgegangen aus einer Beziehung zwischen Zeus und Dione, verkörpert sie die sinnliche Liebe, die sowohl homosexuell als auch heterosexuell sein konnte, während die geistige Liebe ausschließlich eine Beziehung zwischen Männern symbolisierte. Aufgrund ihrer sinnlichen Seite galt Aphrodite den Prostituierten als heilig.

Es wird oftmals der Schluß gezogen, Aphrodite verkörpere die Schöpfungskraft der Natur und Hephaistos die der Technik.

Eine Tochter des Zeus ist Athena, die auch zur Göttin der Polis Athen gemacht wurde. Athena wird gewöhnlich mit Helm, Ägis und Speer dargestellt und „repräsentiert deshalb das patriarchale Prinzip unter den Frauen und die Tüchtigkeit des Männlichen." Aufgrund ihrer Bewaffnung wird ihr eine Beschützerrolle zugeschrieben. Sie ist gleichzeitig die Wahrerin der praktischen Intelligenz und damit gemeinsam mit ihrem Bruder Hephaistos sämtlichen (männlichen wie weiblichen) Handwerks. Hier, wo es um die praktische Seite geht, kann sie scheinbar Männern wie Frauen zur Seite stehen. In ihrer doppelten Funktion wurde sie als Schutzgöttin Athens verehrt. Eine Erscheinung, die keineswegs eine Ausnahme war. In etlichen griechischen Poleis fanden sich weibliche Schutzgottheiten, in vielen „Gründungsmütter", auf die sich die Gesellschaft zurückführte und die namentlich erwähnt sind. Die weibliche Gottheit sollte hier zum einen Fruchtbarkeit und Ernährung und damit das Wohlergehen der Bevölkerung schützen, zum anderen galt sie als bewaffnete Beschützerin.

Athena, die zum Teil in männlicher Gestalt ihren Günstlingen erscheint, ist der Typ der maskulinen Frau, die ihren Aufgaben dadurch gerecht wird, daß sie in weiten Teilen ihre Weiblichkeit und Sexualität zurückdrängt. Als von einem Mann geborene Jungfrau ergreift sie ihrerseits bei Auseinandersetzungen stets für die Männer Partei, und schon ihre Geburt ohne weibliche Beteiligung ist ein Ausdruck dafür, daß der Vater der eigentliche und bedeutende Elternteil des Kindes ist, über den als wesentlicher Bestandteil Weisheit vermittelt wird.

Weiteres Kind des Zeus ist Apollon, der als vielfältige Gottheit von großer Bedeutung ist. Apollon als Gott des Lichts, als Reiniger und Heiler besitzt große Weisheit und kann außerdem in die Zukunft blicken. Er steht von daher an der Spitze großer Heiligtümer, so z.B. des Orakels von Delphi. Er ist außerdem der Garant von Harmonie, Schönheit und der ästhetisch definierten Ordnung der Welt und spielte eine große Rolle im Bereich der Kultur, der Musik und Poesie.

Den Gegenpol zu Apollon bildet Dionysos - vermutlich orientalischen Ursprungs. Auch Dionysos wird von Zeus allein aus seinem Schenkel geboren, in den er ihn verpflanzt hatte, als Dionysos’ Mutter starb. Frauen spielen somit zwar bei der Zeugung, aber nicht bei der Entwicklung und Hervorbringung des Kindes eine zwingende Rolle.

Das Gegenstück zu Dionysos ist Demeter, die für die Fruchtbarkeit der Erde und die Kreisläufe der Natur steht, was besonders im Demeter/Persephone Mythos zum Ausdruck kommt. Diese Göttin, die auch besonders mit dem Ackerbau in Verbindung gebracht wird, wurde besonders von Frauen verehrt.

Auch die Zwillingsschwester des Apollon, Artemis, wird mit den Räumen außerhalb der Polis verknüpft, da sie oftmals als im Wald mit Pfeil und Bogen jagend dargestellt wird. Sie soll auch deshalb von den Amazonen verehrt worden sein. Diese jungfräuliche Göttin versinnbildlicht die Riten der jungen Frauen, den Übertritt vom Jungfrauendasein zum Ehefrauenleben und ist die Schutzgöttin des weiblichen Lebenszyklus. Sie wurde von Frauen kultisch geehrt. Artemis versinnbildlicht u.a. Menstruation, Niederkunft und Tod.

Hermes, auch als Götterbote bekannt, symbolisiert die Figur des Boten und des Reisenden. Diese Aufgabe umfaßt das Knüpfen von zwischenmenschlichen Kontakten ebenso wie jede Form von Handel und das Geleiten der Toten von der diesseitigen in die jenseitige Welt.

Poseidon, der Bruder des Zeus, der als Beschützer der Seefahrer für die Griechen von großer Bedeutung war, ist als Gottheit vermutlich mykenischen Ursprungs. Ihm fällt im Gegensatz zu Zeus, der Himmel und Erde beherrscht, die Macht über das Meer zu.

Im Kreise der olympischen Göttinnen befinden sich somit solche, die in vielem ihren menschlichen Pendants ähneln, mit der Ausnahme, daß sie nicht altern und sterben. Sie weisen dabei jedoch untereinander beträchtliche Unterschiede bezüglich ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Persönlichkeit, ihrer Funktion und ihrer Beziehung zu Menschen und anderen Göttern auf.

Auffällig ist, daß von vier bedeutenden olympischen Göttinnen zwei Jungfrauen sind: Athena und Artemis. Pomeroy geht hierbei davon aus, daß es sich bei ihnen nicht um Jungfrauen im Sinne von körperlicher Unberührtheit handelt, sondern daß sie vielmehr als Jungfrauen verehrt wurden, weil sie nie eine monogame Ehe eingingen. Diese Göttinnen genießen aufgrund ihrer Ungebundenheit große Freiheit und Unabhängigkeit. Sie sind kraftvoll, haben männliche Züge und können sich selbst verteidigen. Zeus garantiert den jungfräulichen Göttinnen Schutz und Ehre. So zeichnet in der Theogonie Zeus die jungfräuliche Göttin Hekate vor allen aus, überreicht ihr wertvolle Geschenke und räumt ihr vielfältige Freiheiten ein. Die Göttinnen mit den kraftvollsten und männlichsten Zügen dürften Athena und Artemis sein, die jedoch teilweise ebenfalls weibliche Tätigkeiten ausüben z.B. Weben. Andere jungfräuliche Göttinnen führen ein eher frauliches Leben, so z.B. Hestia, die Schwester des Zeus, die permanent inmitten des Haushaltes sitzt und den Herd bedient.

Dennoch sind diese jungfräulichen Göttinnen seltene Ausnahmen. Der Großteil der Göttinnen ist verheiratet und hat Kinder. Daß Göttinnen ihre Eigenständigkeit während der Ehe suchen und ggf. ihren Ehemann betrügen, ist mit Aphrodite der absolute Ausnahmefall.

Viele Gottheiten unterhalten Beziehungen zu Menschen, die sowohl freundschaftlicher wie sexueller Natur sein können. Freundschaftliche Beziehungen zu Menschen unterhalten oftmals die jungfräulichen Göttinnen Athena oder Artemis. Beziehungen zwischen Göttinnen und Menschen sowohl sexueller wie auch freundschaftlicher Art sind ausgeglichener als die zwischen männlichen Göttern und sterblichen Frauen, wo nahezu immer Sexualität im Spiel ist und der Gott eindeutig das dominierende Element darstellt. Erotische Beziehungen von Göttinnen zu sterblichen Männern werden von den Göttern oftmals mit Eifersucht betrachtet und teilweise auch gerächt. Scheinbar erwarten die Götter, daß die Göttinnen nur mit Männern gleichen Standes, also mit Göttern, verkehren, während sie selbst ungestraft sexuelle Beziehungen sowohl zu Sterblichen als auch zu Unsterblichen unterhalten dürfen. Eine Erscheinung, die an die athenische Gesellschaft erinnert, wo der Bürger vollkommene sexuelle Freiheit genoß, während eine Bürgerin ihrem Ehemann treu zu sein und vor der Ehe jungfräulich zu bleiben hatte. Die Betrachtung der Beziehung zwischen Göttern und sterblichen Frauen ergibt, daß diese Affären oftmals mit großem Leid für die Frauen verbunden sind. Abgesehen davon, daß die Vergewaltigung durch Götter kein Einzelfall ist, hat die Frau, oftmals passives Opfer des Gottes, ein Kind auszutragen und ihr Dasein als ledige Mutter zu fristen. Beispiele für erotische Beziehungen zwischen männlichen Göttern und sterblichen Männern sind gering, aber vorhanden. Offenbar wurde die sexuelle Anziehungskraft zwischen Männern im Mythos wenn auch nicht vertieft, so doch akzeptiert.

Neben der sexuellen Freizügigkeit, die bei männlichen Göttern nie Anstoß erregt, wird einigen von ihnen, so Zeus oder Apollon, ein Tätigkeitsfeld zugesprochen, das alle menschlichen Bereiche umfaßt und in dieser Form von keiner Göttin erreicht wird.

 

„So übernehmen beispielsweise Zeus und Apollon die Rolle des Herrschers, des Intellektuellen, des Richters, des Kriegers, des Vaters und des Partners sowohl in homosexuellen wie in heterosexuellen Liebesbeziehungen."

Die Rolle der Götter im olympischen Geschlechtergefüge ist sowohl nach innen wie nach außen eine dominante. Auch wenn die Göttinnen und deren Kinder über besondere Rechte und Pflichten verfügen, befinden sie sich doch in untergeordneter Stellung und die griechische Götterwelt stellt sich als patriarchalische Ordnung dar.

3.1.6 Fazit: Oikos - die weibliche Sphäre

Bei der Bewertung der Rolle der Frau in der und für die athenische Gesellschaft streitet sich die Forschung. Ein Hauptproblem scheint die Neigung zu sein „die Welt des Altertums aus der Perspektive heutiger Wertkategorien zu betrachten." Haben wir auch aus heutiger Sicht den Eindruck eines für unsere Verhältnisse trostlosen Daseins der Bürgerin, so vermag man nur schwer zu beurteilen, ob diese in ihrer Zeit glücklich oder unglücklich war. Unser Blick kann und sollte also nur der äußere sein, denn uns muß es um die Bedeutung, die die zeitgenössische Gesellschaft der Frau einräumte, und die Gründe dafür gehen.

Obwohl der Tätigkeitsbereich der Frau fast vollständig der Öffentlichkeit entzogen war, war die Frau doch keine verbannte oder ignorierte Person. In ihrem Aufgabenbereich war vielmehr umfassend für sie vorgesorgt. Das System garantierte der Frau finanzielle Absicherung und auch Schutz durch die männlichen Verwandten. Witwen sowie alte Frauen standen außerdem unter besonderem rechtlichen Schutz. Außerdem war bei Mißhandlung einer Frau eine gesetzliche Strafe vorgesehen. Auch dies ist ein Hinweis darauf, daß die Frauen, wenn auch nur, wenn sie den ihnen gesteckten Handlungsrahmen einhielten, von der Gesellschaft durchaus als schutzwürdig angesehen wurden und ihnen damit ein Wert zugebilligt wurde. Dies zeigt, daß man die Frauen, trotz patrilinearer Ausrichtung der Familienstrukturen, sehr wohl zumindest als Personen betrachtete.

 

„Niemals sah man sie als bloße Objekte an."

Offenbar billigte man ihnen auch zu, sich in ihrem Tätigkeitsfeld über Lebenserfahrung eine gewisse Menge praktischen Verstandes anzueignen. Es wurde also nicht generell davon ausgegangen, daß Frauen keinerlei geistige Qualitäten entwickeln könnten, auch wenn man sie oftmals als Kinder bezeichnete. Zumindest die Möglichkeit einer geistigen Betätigung sah man wohl als gegeben an. Ob man vermutete, daß eine solche durch die Natur der Frau oder aber aufgrund der ihr zugewiesenen Rolle schwerer entwickelt werden könne, ist nicht eindeutig, da es dazu keine klaren Quellen archäologischer und literarischer Art gibt. Zumindest Platon dürfte jedoch als Anhänger zweiter These gelten. Auch in Grabepigrammen taucht auf, daß die Ehefrau nicht nur wegen ihrer hausfraulichen Qualitäten sondern auch wegen ihres Verstandes gelobt wurde.

So lautet eine Grabinschrift (allerdings aus dem frühen 4. Jh.):

 

„Frauen erringen Berühmtheit durch fleißige Arbeit im Hause,

auch durch Anmut und Maß, und durch gesunden Verstand,

manche durch gute Werke, durch Unterdrückung des Fleisches,

Tränen und Gelübde und durch tätiges Lindern der Not..."

Die Grabepigramme und -standbilder wie auch die Darstellungen von Frauen auf Friesen - beides künstlerisch ausgestaltet und öffentlich aufgestellt - sind unseres Erachtens ein Hinweis darauf, daß die Bürgerin und ihre Tätigkeit nicht als Selbstverständlichkeit angesehen sondern gewürdigt wurden, wenn auch immer in den ihr abgesteckten Handlungsgrenzen.

Das hohe Loben gerade der Ehefrauen in den Grabepigrammen findet sicherlich zum Großteil seine Erklärung in der Aufgabe, die der athenischen Bürgerin für die Gesellschaft zugeschrieben wurde. Und diese war in der Hauptsache und zuallererst das Hervorbringen von legitimen Nachkommen und die Erhaltung des Familiengeschlechtes. Dahin ging die Erziehung der Mädchen und dem dienten sicherlich auch die Vorgaben des Entziehens der Ehefrau aus der Öffentlichkeit.

Sicherlich ist hier davon auszugehen, daß auch die Frau betreffende soziale Einstellungen und Verhaltensmuster, die bereits während der archaischen Zeit verfestigt worden waren, fortlebten. Sie wurden über Mythen und Erzählungen weitergegeben und vermittelten eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung, die den Mann zum Krieger und die Frau zur Mutter bestimmte. Hier kommt zum Tragen, daß den Mythen ein hoher Wahrheitsgehalt zugebilligt wurde, und die Gesellschaft sich nicht nur an realen Vorgesellschaften, sondern auch auf diese „mythisch-historische" Weise orientieren und legitimierten konnte.

So blieben, auch wenn sich die politische Mitbestimmungsmöglichkeit auf immer weitere Kreise der Männer ausdehnte, die alten Ideale und ebenso das Bild der Bürgerin und die ihr zugesprochene Rolle gleich. Die außen- und innenpolitischen Veränderungen ließen den Oikos im Gegensatz zur Polis unangetastet.

Auch die Tatsache, daß andere Gesellschaften z.B. Sparta in der Nähe lagen und dort ein völlig anderes Frauenbild zum Tragen kam, änderte an den allgemeinen Verhältnissen nichts. Das wird zum einen damit zu erklären sein, daß man sich nicht oder zuwenig mit dem Thema „Frau" auseinandergesetzt hat, da gesellschaftliche Positionen in einem sehr geringen Maße reflektiert wurden. Vermutlich haben aber auch gerade die Außenkontakte dazu beigetragen, die bestehenden Zustände beibehalten zu wollen; dies entweder in reflexartiger Abgrenzung zu Sparta oder aber, gerade in der zweiten Hälfte des 5. Jh., vor dem Hintergrund einer Furcht. Denn auch wenn Sparta letztlich im Peloponnesischen Krieg siegte, führte gerade das dort praktizierte Gesellschaftssystem dazu, daß Sparta aufgrund so weniger legitimer Nachkommen kurz vor dem innenpolitischen Zusammenbruch stand.

Auffällig ist auch die Tatsache, daß die Position von Frauen insbesondere in den Demokratien des 5. Jh. bezogen auf Öffentlichkeit und politische Mitbestimmung eine mit wenig Einfluß ist, während in Aristokratien zumindest den Frauen der Oberschicht einige Vorteile eingeräumt sind. Pomeroy begründet dies mit der Abgrenzungstendenz, die in der alten adeligen Ordnung vorhanden war. Während sich dort zwar die Männer einer Schicht „gleich" waren aber von den Schichten tiefer stehender Männer abhoben, hatten die Veränderungen des 5. Jh. hin zur Demokratie dazu geführt, daß eine Gleichheit unter allen Bürgern herrschte. Die alten Adelsideale der Gleichheit nur unter „Gleichen" bei gleichzeitig möglichst großer Abgrenzung von allen „Ungleichen" seien jedoch nicht verloren gegangen.

 

„Das Herrschaftsstreben war so ausgeprägt, daß sich diese Männer nun als besondere Gruppierung von der übrigen Gesellschaft absonderten und den Anspruch erhoben, allen anderen - Fremden, Sklaven und Frauen - überlegen zu sein."

Die Existenz von in der Öffentlichkeit tätigen Frauen, die zugleich auch Ehefrau und Mutter waren, war durchaus aus vorherigen Jahrhunderten bekannt. So waren sowohl Sappho als auch ihre Werke im 5. Jh. nicht verachtet sondern bei Teilen der Gesellschaft durchaus geschätzt. Allerdings wurden ihr Leben und ihre Leistungen wohl anerkannt, aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht als Vorbild empfunden. Die Ausnahme dürften hier wiederum Platons Schule wie einige andere Gelehrtenschulen gewesen sein, die Frauen aufnahmen. Im 5. wie auch in den folgenden Jahrhunderten wurden weder Schulen für Mädchen gegründet noch erlangten Frauen mehr Einfluß. Dies gilt für alle Frauen. Denn obwohl Hetären, Fremden und Sklavinnen mehr Öffentlichkeit erlaubt war als der Bürgerin, blieb eine gesellschaftliche oder politische Artikulation allen Frauen verwehrt.

 

„There were iron rules, then, that the polis imposed on women, shutting them out and depriving them of practically every chance of freedom: rules that both considered them inferior and made them so."

„...weit entwürdigender als die - leicht zu übertretenden - Verhaltensnormen, bei gewahrter ehelicher Sexualmoral, waren die sozialen und politischen Gebote, die, konsequent befolgt, auf eine totale Isolation der Frau abzielten."

Beide Auffassungen stellen unseres Erachtens das Ergebnis zutreffend dar: eine Isolation (der Bürgerin) und einen politischen und gesellschaftlichen Ausschluß aller Frauengruppen. Beides kann, muß jedoch nicht, dem in vorstehenden Zitaten erweckten Eindruck entsprechend, bewußt eingeführt worden sein, um die Frau zu degradieren. Das System gründete sich ja auf göttliche Legitimation und Jahrhunderte lang überliefertes Gewohnheitsrecht. Auch war die Frau in ihrer passiven Rolle durchaus geachtet und akzeptiert - solange sie sich an die vorgegebenen Regeln hielt.

Für die Frau selbst stand natürlich damit eines fest: ein Wirken war stets nur aus dem Hintergrund und ohne legale Basis möglich. Da es sich für eine Athenerin nicht schickte mit Fremden (zumal mit Männern) zu sprechen, befand sie sich in der Rolle einer „stummen Person", und „die wesentliche Aktion, die eine Frau unternehmen kann, ist die Verweigerung, zumindest ihr Versuch."

Ein Ausnahmebereich scheint der der Religion zu sein. Hier war es Frauen möglich eigene Feste in der Öffentlichkeit und ohne Aufsicht durch Männer zu feiern. So hält z.B. Redfield das ausschließlich Frauen vorbehaltene Thesmophorienfest für eine Rückzugmöglichkeit der Frauen, während der diese ihre eigene „rituelle Polis" bildeten. Auch wurden Frauen durch Frauen für diese Zeit in bestimmte Ämter gewählt. Im Rahmen der Religionsausübung konnten Frauen auch in besondere Rollen schlüpfen. Von Bedeutung sind hier vor allem Jungfrauen und Priesterinnen - oftmals fällt beides zusammen. Ihnen kamen, vermutlich in Anlehnung an die jungfräulichen Göttinnen, größere Befugnisse zu. Sie nahmen in der Öffentlichkeit Kulthandlungen vor und hatten als Priesterinnen oftmals sogar indirekten politischen Einfluß. Es gelang ihnen also so etwas wie eine eigene öffentliche Identität aufzubauen. Allerdings war diese öffentliche Identität zumindest bei Jungfrauen, die nicht einen lebenslangen Priesterinnenposten bekleideten, zeitlich sehr begrenzt. Denn sterbliche Jungfrauen hatten im Gegensatz zu ihren göttlichen Pendants keinen übernatürlichen Beschützer, keine Bewaffnung und mußten außerdem altern. Schutz bot ihnen im folgenden wieder ein Mann - in der Ehe.

Auch die Götter bestärkten die Sterblichen dahingehend, daß einer (sterblichen) Frau letztlich als höchste Aufgabe zukomme, Mutter zu sein. Alle sterblichen Jungfrauen, die sich der Annäherung eines Gottes widersetzten, hatten mit Bestrafung zu rechnen. Aus Liaisons von Göttern mit Sterblichen entspringen als Ergebnis der Beziehung stets Kinder.

Damit wird das athenische Frauenbild auch durch das von den Griechen verinnerlichte Götterbild gestützt. Dort sind Göttinnen zwar vertreten und haben größtenteils gegenüber irdischen Frauen weit überragende Möglichkeiten und Befugnisse, letztlich sind sie jedoch eingepaßt in ein Gefüge, das sie den Göttern unterstellt und einer patriarchalischen Gesellschaftsform entspricht. Denn während männliche Götter die vielfältigsten Eigenschaften in ihrer Person vereinigen, werden begehrenswerte Qualitäten viel stärker auf mehrere weibliche Gottheiten verteilt: es gibt verheiratete Göttinnen, jungfräuliche Göttinnen, „typisch" weibliche Göttinnen mit Kindern und „männliche Göttinnen im Kampfanzug". Keine Göttin erreicht auch nur annähernd die Position eines Zeus oder Apollon, obwohl doch z.B. Artemis ihrem Zwillingsbruder von den Anlagen her in nichts nachsteht.

Interessant ist hierbei, daß sich die athenische Gesellschaft ebenfalls einer solchen Aufteilung der Frauen bediente, wobei jeder einzelnen Frauengruppe nur bestimmte Eigenschaften zugebilligt wurden:

 

„Wir haben Hetären, mit denen wir uns vergnügen, Konkubinen, die uns bedienen, und Gattinnen, die uns die legitimen Nachkommen gebären."

Dabei durften bestimmte Frauen, denen auch der Aufenthalt in der Öffentlichkeit gestattet war, zwar gebildet sein, konnten jedoch nie den höheren Status einer Bürgerin erlangen und legitime athenische Bürger hervorbringen. Sie konnten also niemals ihre vorhandenen geistigen Qualitäten als Machtfaktor in der Gesellschaft einsetzen. Die Frauen hingegen, die den Fortbestand des Staates über das Hervorbringen legitimer Nachkommen sicherten, hatten in der Regel weder die geistige Bildung noch die Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu gehen, um ihre Anliegen vorzutragen oder ihre Position zu verbessern. Nicht umsonst hat wohl das griechische Wort „edamassato" sowohl die Bedeutung „zähmen oder bändigen" als auch „verheiraten oder ins Joch der Ehe zwingen" . Man kann sich bei dieser „Aufteilung" der Frauen nicht von dem Gedanken freimachen, daß es durchaus auch - bewußt oder unbewußt - Angst vor dem Zusammenbruch oder der Einschränkung des männerdominierten Gesellschaftssystems gewesen sein könnte, die das Zusammentreffen von geistigen Qualitäten und einer gesellschaftlich hochstehenden Stellung zu verhindern gewußt hat.

Da es als höchste Lebensaufgabe der Frau galt, ein Kind hervorzubringen, resultierte daraus wohl, daß die athenische Gesellschaft Frauen, die wie die Amazonen ihre Weiblichkeit und damit die Mutterrolle bewußt leugneten, als Feinde und Ungeheuer betrachtete. Die der Frau zugewiesene Lebensaufgabe war für die Gesellschaft zu wichtig, als daß man frauen-dominierte Gesellschaften hätte akzeptieren können. Denn mit den Frauen wurde zum einen der Haushalt - der Oikos - fortgeführt, andererseits aber auch die Polis als Zusammensetzung der einzelnen Oikoi der Bürger am Leben erhalten. Das Interesse der Familie fiel also in diesem Punkt mit dem des Staates zusammen - und Oikos und Polis bildeten die Hauptverpflichtung eines jeden Bürgers.

Die Bürgerin war somit über den Oikos wesentliches Element zur Erhaltung und Stärkung der Polis und gerade die bereits beschriebenen Schutzvorschriften machen deutlich, daß man sich zum einen dieser wichtigen Rolle bewußt war, zum anderen aber auch versuchte, die Frau in dieser Rolle festzuhalten; sie also von all den Dingen fernzuhalten, die sie auf andere Ideen der Gestaltung oder Änderung ihrer Rolle hätten bringen können. Das Fernhalten der Frau aus der Öffentlichkeit hatte damit, zumal man der Frau ja teilweise Verstand zubilligte, wohl nicht nur Schutzfunktion für die Frau als Person und die Legitimität der Familie, sondern auch Sicherungsfunktion für die Gesellschaft. Die Frau war für den Erhalt der Polis in genau dieser Rolle von Wichtigkeit. Nur eine hohe Zahl von Vollbürgern - also Kindern von Bürgern mit Bürgerinnen - verschaffte der Polis Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit. Die Aufgabe der Frau für Oikos und Polis fallen hier zusammen.

Damit wird auch die Bedeutung des öffentlich so zurückgedrängten Oikos offenbar, die Redfield so umschreibt:

 

„Jede Dichotomie - zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Männlichem und Weiblichem, zwischen Kultur und Natur - ist von einer Vermittlung begleitet (...) Durch die Unterdrückung der häuslichen Sphäre erkannten die Griechen gleichzeitig deren geheime Macht an."

Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser bedeutenden Rolle für die Gesellschaft waren Frauen sämtliche politischen Aktivitäten versperrt.

Die männliche Seite betrachtete die Frauen mit Mißtrauen, weil sie anders waren, aber wohl auch, weil sie so ungeheuer wichtig waren für den Bestand der athenischen Polis.

3.2 Tragödie - Aussagen im Frauengewand

Von dem Oikos auf die Bühne - von der Realität zum Theater.

Ein großer Sprung?

Die Weite des Sprunges werden wir im folgenden Teil zu betrachten haben. Wir wollen unseren Blick jetzt von der Realität der athenischen Frau weg, hin auf die Frauengestalten der Tragödie lenken.

3.2.1 Allgemeines

Während von anderen Tragödiendichtern sämtliche Werke verloren sind, sind von den drei im 5. Jh. bedeutendsten Tragikern Aischylos, Sophokles und Euripides wenn auch nicht alle, so doch insgesamt 31 Tragödien erhalten. Bis auf die Perser des Aischylos, die ein zeitgenössisches Thema behandeln, spielen sämtliche Tragödien in der mythischen Vergangenheit.

Mit Ausnahme des Philoktetes von Sophokles sind in allen Tragödien Frauen vertreten, sehr oft spielen diese sogar die Hauptrolle. Außerdem sind sie sehr oft titelgebend, entweder als Einzelperson oder aber als Frauengruppe.

Die Inhalte der Tragödien stellen die Frauen bei allen drei Dichtern in einen Handlungsrahmen, der mit häuslichen Aspekten zu tun hat. Es werden Reaktionen von Frauen in bestimmten Ereignissituationen dokumentiert, wobei der Kernpunkt immer der Oikos bleibt. Dieser wird oder soll aufgrund von Einflüssen zerstört oder erweitert werden. Mit einer solchen Situation ist die Frau am Beginn nahezu jeder Tragödie konfrontiert. Die im Mittelpunkt stehenden Frauen sind an diesem Stand der Dinge immer schuldlos.

Politische Ereignisse wirken in den Tragödien nur mittelbar und werden in ihren Auswirkungen auf familiäre Situationen dargestellt. Euripides z.B. beschäftigt sich mehrmals mit dem Schicksal der trojanischen Frauen aufgrund der militärischen Niederlage Trojas. Wegen dieser Bezogenheit auf den Oikos erscheinen die verschiedensten Frauen in der Mehrzahl als Familienangehörige (Frauen, Kinder, Geschwister). In nur einer Tragödie, dem Aias des Sophokles, läßt sich die dramatisch herausgehobene Stellung einer Frau feststellen, die nicht unmittelbare Familienangehörige ist. Tekmessa ist die Geliebte des Aias und hat mit diesem auch einen Sohn. Sie ist also, wenn auch nicht direktes Familienmitglied, so doch Angehörige des Oikos.

Außenstehende Frauen tauchen in keiner einzigen Tragödie in der Hauptrolle auf. Allerdings stellt diese Gruppe in sehr starkem Maße den Chor und nimmt daher ebenfalls eine sehr wichtige Rolle in dem jeweiligen Stück ein. Der Chor ist hierbei, nicht wie viele der Frauengestalten in Haupt- und Nebenrollen, auf den Bereich des Oikos beschränkt, sondern kann sich freier bewegen. Er kann daher auch den Handlungsbereich verlassen und hat somit gegenüber den anderen, dort verbliebenen Frauenfiguren einen Informationsvorsprung. Oft beobachtet er, berichtet und nimmt zu erfolgten Ereignissen Stellung.

Verwendet Sophokles nur sehr wenige Frauenchöre, sind bei Aischylos und Euripides fast alle Chöre weiblich. Die Frauengruppen, denen die Aufgabe des Chores zugewiesen wird, wandeln sich bei den drei Tragödiendichtern. Bei Aischylos und Sophokles sind es mit einer Ausnahme Jungfrauen oder Göttinnen - also zwei Gruppen, denen auch in der Realität Öffentlichkeit zukam. Bei Euripides hingegen treten Frauenchöre auf den Plan, deren Mitglieder in der Realität eigentlich keine Stimme hatten: Bürgerinnen und sogar versklavte oder gefangene Frauen. Während in den Tragödien des Euripides die dargestellten Bürgerinnen-Chöre das Geschehen meist nur von außen betrachten und kommentieren können, also nicht direkt involviert sind, hängt das Schicksal der gefangenen oder versklavten Frauen sehr oft eng mit der Haupthandlung zusammen. So wird zwar in mehreren Stücken die Konsequenz der Niederlage der Trojaner für die Familie des Priamos im Vordergrund behandelt, der Chor teilt jedoch das gleiche Schicksal.

Niemals aber geht diese Übereinstimmung zwischen Chor und Einzelpersonen so weit, daß der Chor oder ein Mitglied des Chores noch innerhalb des Stückes das Leben verliert. Dagegen nimmt das Leben etlicher weiblicher Hauptfiguren ein schreckliches Ende - oftmals durch eigene Hand. So töten sich z.B. Iokaste, Deianeira, Phaidra, während allerdings nur eine Frau ermordet wird: Klytaimestra - diese dafür aber sowohl bei Aischylos und Sophokles als auch bei Euripides.

Neben den sterblichen Frauen tauchen in acht Tragödien, schwerpunktmäßig bei Euripides, weibliche Gottheiten auf. Es dominiert Athena, aber auch Aphrodite, Artemis, die Eumeniden und die Okeaniden treten auf den Plan. Die Rollen, die die Göttinnen ausfüllen, sind ebenso wie ihre Position verschiedenartig. Während Athena, die wie die anderen Göttinnen keinesfalls immer die Hauptrolle spielt, stets eine souveräne Position einnimmt und Situationen aktiv beeinflußt, begegnen uns auch Göttinnen, die einen schwachen Part innehaben und die jeweilige Situation nicht zu ändern vermögen.

Es gibt aber auch solche, die das Leben eines Menschen bewußt zerstören. Ein Beispiel dafür ist der Hippolytos des Euripides, an dessen Anfang Aphrodite entscheidet, daß sie Hippolytos zerstören will, da er sie nicht ausreichend verehrt. Der Hippolytos ist auch insofern eine Besonderheit, daß in aller Offenheit - geplant, verkündet und durchgeführt - ein Götterkampf stattfindet, der sich in der Person des Hippolytos Bahn bricht. Eine dominante, herrische und aktiv auftretende Aphrodite gegen die von Hippolytos verehrte, zurückhaltende Artemis: Verlangen gegen Jungfräulichkeit, Aktivität gegen Passivität, körperliche gegen geistige Liebe. Artemis unterliegt und mit ihr Hippolytos - beide jedoch nicht der aktiven Aphrodite sondern der von Zeus getroffenen Entscheidung, daß Hippolytos sterben soll. Die letztliche Entscheidung resultiert also, trotz der Kämpfe der Göttinnen für ihre Prinzipien, nicht aus einer direkten Konfrontation sondern aus äußerem Diktat - einer männlichen Gottheit. Das direkte Eingreifen von Göttern und deren Eingriff als Handlungslöser nimmt bei Euripides zu. Die Tatsache aber, daß die Uneinigkeit von Götterwillen auf dramatische Weise ein menschliches Leben bestimmt und dieses letztlich aufgrund reiner Willkür vernichtet, wie beim Hippolytos, ist als Darstellung auf der Bühne bei Euripides neu.

Es wird bei den drei Dichtern über die Jahrzehnte in den Tragödien eine Veränderung der Einstellung zum Mythos und besonders auch zu der Religion offenbar.

 

„Während Aischylos und Sophokles die Welt des Mythos noch als eine Einheit göttlicher Ordnung sahen, die in einem unabänderlichen Verhältnis zum menschlichen Individuum stand, konnte Euripides diesen Glauben nicht mehr unkritisch teilen."

Die Tragödien von Aischylos und Sophokles weisen zu großen Teilen „Schlußworte" auf, die das göttliche Handeln zwar nicht erklären, aber den Ablauf des menschlichen Lebens in ein Gefüge stellen, das von den Göttern geordnet und auch wohl geformt ist, und welches der Mensch nur nicht versteht und damit erdulden muß. Bei Sophokles sind diese „Schlußworte" schon seltener und auch nicht immer auf Götter bezogen. Euripides hingegen hat fast gar keine „Schlußworte" mehr. Nur bei ihm tauchen die Götter plötzlich am Ende des Stückes auf und vermitteln einen Schluß und eine Lösung. Das sich Hingeben der Personen in das, was auch immer komme, als gottgewolltes Schicksal fehlt. Der Gott muß selbst auftreten, eine Lösung bieten und diese vor allem auch begründen. Euripides Ansprüche an die Götter waren sehr hoch.

Mit dieser unterschiedlichen Sichtweise des Eingreifens der Götter in menschliches Handeln scheint sich auch der Grad an Selbstverantwortung des Menschen für sein Handeln, der den Figuren jeweils von den einzelnen Dichtern eingeräumt wird, zu verändern. Dieser wird bei Euripides am stärksten zum Ausdruck gebracht. Euripides steigert die Selbstverantwortung, und er bringt die meisten Frauengestalten auf die Bühne. Er verlangt von den Frauen also Begründungen für ihr Handel, gibt ihnen andererseits aber auch den Raum dazu.

Das ist allerdings nur eine der Veränderungen, die sich zwischen den drei Tragödiendichtern feststellen läßt. Besonders deutlich werden die Unterschiede der in einem Zeitraum von 472 bis 405 - also innerhalb von schließlich 70 Jahren - aufgeführten Tragödien an den Stoffen, die von allen drei Dichtern behandelt worden sind. So haben sich alle der Elektra-Figur angenommen und betrachten sie jeweils ausgehend vom Alleinleben ohne den Bruder, über das Auftauchen des Orestes bis zur Tötung von Klytaimestra und Aigisthos. In den Weihgußträgerinnen des Aischylos begegnet uns eine völlig passive Elektra, die zwar ihr Schicksal beklagt, aber nicht handelt und auch die Anregungen Orestes’ zur Tötung von Klytaimestra und Aigisthos wie Befehle entgegennimmt. Bei Sophokles erscheint schon eine entschiedener auftretende Elektra, die zwar auf ihren Bruder wartet, um zu handeln, aber nach dessen vermeintlichem Tod ein eigenständiges Agieren ankündigt. Sie hilft beim Entwerfen des Plans, aber Orestes handelt. Euripides geht noch einen Schritt weiter. Elektra lebt nicht mehr zu Hause, bestimmt trotz Ehemann (der sie aber nie berührt hat) ihr Leben allein, ist mißtrauisch und entwirft weite Teile des Plans selbst. Die Frauenfigur wandelt sich also, wird von der passiven zur aktiven Person, während die Situation gleich bleibt.

Diese Tendenz läßt sich bei den vorliegenden Tragödien insgesamt feststellen. Von Aischylos, über Sophokles zu Euripides werden die Frauen aktiver, gefährlicher und schrecklicher. Sie verüben Taten, die den Erwartungshorizont für eine Frau des 5. Jh. nicht nur übertreten sondern sprengen, indem sie bestehende Strukturen aktiv und willentlich zerstören. Auch Aischylos und Sophokles haben solche Frauen, aber in weit geringerem Maße als Euripides, während hingegen von Aischylos über Sophokles zu Euripides die Zahl der passiven und das Frauenbild der Realität spiegelnden Frauen geringer wird. Die passiven Frauen verschwinden aber auch bei Euripides nie vollständig.

Es bleiben trotz der Verschiebung des Verhaltens der Frauen in der Tragödie verschiedenste Paradigmen präsent: verheiratete und jungfräuliche Frauen, alte und junge Frauen, Herrscherinnen und Sklavinnen, Sterbliche und Unsterbliche.

Eines ist jedoch allen sterblichen Frauen gemeinsam: Sie erscheinen stets in einer Situation auf der Bühne, in der sie diskreditiert oder gefährdet sind. Die Frau wird also dann thematisiert, wenn ihr Leben nicht mehr in normalen Bahnen verläuft. Und zwar nicht mehr in normalen Bahnen aus Sicht der Frau. Jason mag es durchaus normal finden, Medeia zu verstoßen, und die Griechen mögen es als nichts besonderes auffassen, die Trojanerinnen zu versklaven - die weiblichen Bühnenfiguren sehen das anders. Und genau das kommt zur Sprache. Die Frauen sind gezwungen, sich mit einer Situation auseinanderzusetzen, die ein normales Frauenleben oftmals übersteigt, oder aber die theoretisch im Gesellschaftssystem möglich ist, für die Frau jedoch in dem Moment ein totales Umwerfen ihrer Lebensverhältnisse darstellt.

Mit der Konfrontation mit einer solchen Situation gehen Frauen unterschiedlich um. Wir haben für diese Reaktionen drei Kategorien gebildet, in die wir die Frauen eingeordnet haben. So gibt es „hilflose Frauen". Diese sind zum großen Teil bei Aischylos vertreten, etwa in den Schutzflehenden. Diese Frauen geraten in eine Situation, beklagen diese auch, verharren jedoch regungslos und hoffen höchstens auf Rettung von außen. Selbst werden sie nicht tätig. Dann gibt es Frauen, die man als „aktives Opfer" bezeichnen kann. Diese sind wie z.B. Iphigenie zur Opferung vorgesehen. Doch statt das Schicksal abzuwenden, was teilweise noch möglich wäre, oder aber regungslos zu verharren, steuern sie aktiv auf ihre Opferung hin und fördern diese. Die Frauen dieser beiden Kategorien zeichnen sich oftmals durch Eigenschaften aus, die bei einer Bürgerin als genehm empfunden wurden: Sittsamkeit, Schweigsamkeit, Fügsamkeit, Unterordnung unter den Mann und die Gesellschaft. So äußert z.B. Iphigenie, als Achilleus sie vor der Opferung retten will:

 

„Kann man sich denn sträuben, Mutter, wenn man so berufen wird?

Unerträglich ist’s, daß dieser Jüngling einer Frau zulieb

wider alle Griechen streitet und für mich sein Leben läßt.

Ist ein Mann nicht mehr als tausend Weiber wert, das Licht zu schau’n?"

Die dritte Kategorie, der der weit größte Teil der Frauengestalten angehört, bilden eigenständige, „gefährliche Frauen", die selbst aktiv sind und deren Zahl wie bereits erwähnt von Aischylos über Sophokles zu Euripides zunimmt. Deren Eigenständigkeit muß nicht zwingend die gleiche Ausprägung haben. Sie kann gut gemeint sein und scheitern. Sie kann jedoch auch in purer Rache zum Ausdruck kommen. Entscheidend ist unseres Erachtens hier die Tatsache, daß die Frauen nicht bereit sind, sich mit ihrem Schicksal wortlos abzufinden, sondern auf verschiedenen Wegen dagegen aufbegehren.

In Anbetracht der Fülle der Tragödien, die wir nicht alle ausführlich behandeln können, haben wir uns entschieden, bei allen drei Dichtern Beispiele solcher „gefährlicher" oder „schrecklicher Frauen" zu untersuchen, da diese Frauengestalten vor dem Hintergrund der Realität der athenischen Frau für das Publikum das Ungewöhnlichste und Aufregendste dargestellt haben dürften.

Bevor wir jedoch die Bühne für die „gefährlichen" und „schrecklichen Frauen" frei machen, wollen wir unsere Aufmerksamkeit noch kurz auf die Einschätzungen der Mitagierenden der Frauen in den Stücken richten und beschreiben, wie Männer in der Tragödie über Frauen sprechen, welche Erwartungshaltungen, Erkenntnisse oder Befürchtungen deutlich werden. Es ist auffällig, daß die Äußerungen, die in den Stücken über Frauen getan werden, nahezu in allen Fällen allgemein gehalten sind. Eingeschätzt wird nicht die gerade agierende Frau, vielmehr trifft die Beurteilung gleich alle Frauen.

Die Betrachtung dieser Äußerungen gibt kein einheitliches Bild. Die Tendenz geht aber dahin, von Frauen ein solches Verhalten zu erwarten, wie es auch von der Bürgerin in der Polis Athen erwartet wurde. Bei Aischylos dominiert von Seiten der Männer deutlich die Anspruchshaltung an eine unterwürfige Ehefrau und Mutter. Die Ehe sei den Frauen vorherbestimmt, die Männer seien bessere Herren und die Rolle der Frau bei der Hervorbringung von Kindern nur eine untergeordnete:

 

„Nicht ist die Mutter des Erzeugten, ‘Kind’ genannt,

Erzeugrin - Pflegrin nur des neugesäten Keims.

Es zeugt der Gatte; sie, dem Gast Gastgeberin,

Hütet den Sproß, falls ihm nicht Schaden wirkt ein Gott.

Für die Behauptung führ ich also den Beweis:

Vater kann werden ohne Mutter man; vor uns

Als Zeugin steht die Tochter des Olympiers Zeus,

In keines Mutterschoßes Dunkelheit genährt,

Doch solch ein Kind, wie’s keine Göttin je gebar."

Die persische Königsmutter Atossa (allerdings aus griechischer Sicht eine Barbarin) vermag sich als einzige Frau bei Aischylos sehr wohl hohes Ansehen bei den Männern zu verschaffen und wird mit höchsten Ehrentiteln belegt.

Die meisten Äußerungen über Frauen bei Sophokles macht Kreon in der Antigone. Das Bild, das dort zum Ausdruck kommt, ist eindeutig: der Mann ist der Frau überlegen, diese hat sich zu fügen („...mich lenkt mein Leben lang kein Weib." ). Sonst sind Stellungnahmen über Frauen bei Sophokles rar. Aber eine unerwartete Äußerung gibt es noch. Orestes in der Elektra billigt Frauen sogar kriegerische Charaktereigenschaften zu:

 

„...bedenke nur, daß Kampfgeist auch in Frauen wohnt."

Die Tragödien des Euripides strotzen im Vergleich zu denen von Aischylos und Sophokles von Äußerungen über Frauen. Diese sind manchmal abgrundtief hassend, aber an anderer Stelle auch die Ehefrau (in sittsamer Rolle) als zwingenden Lebensbestandteil verherrlichend. Insgesamt sind sie extremer als bei Aischylos und Sophokles. Ein Beispiel für eine Verherrlichung erfolgt in der Alkestis, wo (ein allerdings sehr schwächlicher) Admetos seine Gattin Alkestis, die sich für ihn geopfert hat, mit den Worten betrauert:

 

„Das Härteste ist für den Mann der Verlust einer treuen Gefährtin."

Abgrundtiefer Haß kommt in der Medea und noch wesentlich stärker im Hippolytos zum Ausdruck. Während Jason beklagt „gäb es doch kein Weib" und „eine Frau ist sie wie andre Frau’n" , macht er immerhin bei der Beurteilung von Medeias Tat die Einschränkung: „das hätte keine von den Griechinnen vermocht" - nimmt also die griechische Bürgerin von seinem Urteil aus. Hippolytos hingegen beschimpft das gesamte Geschlecht der Frauen als übel und verdorben:

 

„ O Zeus! Warum hast du der Weiber falsches

Geschlecht in diese Sonnenwelt gepflanzt? (...)

Des Weibes Schändlichkeit zeigt schon der Brauch,

Daß sein Erzeuger, der es aufgezogen,

Die Mitgift draufgibt, um es loszuwerden (...)

Der Gattin sollte keine Zofe nahn,

Nur stumme Bestien sollten um sie sein,

So daß an keinen sie die Rede richten,

Und keiner auch ihr könnte Rede stehn.

Sonst spinnt die arge Herrin drin im Haus

Den argen Plan, die Zofe trägt ihn aus (...)

Denn immer sind von Grund auf schlecht auch sie."

3.2.2 Besonderes: gefährliche Frauen

Wir haben für eine ausführliche Darstellung die folgenden vier „gefährlichen Frauen" ausgewählt, da sie ein sehr weites Spektrum abdecken. Sie haben unterschiedliche Vorgehensweisen und Zielrichtungen und sind Produkte der großen Zeitspanne eines halben Jahrhunderts.

Daß wir uns für zwei euripideische Tragödien entschieden haben, ist Ausfluß der Tatsache, daß die „gefährlichen (man könnte auch sagen „schrecklichen") Frauen" bei Euripides zunehmen, ohne allerdings ein neues Element zu sein. So kommen denn auch die beiden anderen großen Dichter mit je einer ihrer Schöpfungen zu Wort.

Mögliche Veränderungen über die Zeit oder in Abhängigkeit von der Person des Dichters sollen also Berücksichtigung finden.

3.2.2.1 Klytaimestra

Der Agamemnon des Aischylos war als erstes Stück der Orestie an den Großen Dionysien des Jahres 458 zu erleben. Der Dichter gewann den ersten Preis.

Die Orestie ist immer wieder als in engstem Zusammenhang mit der Entwicklung Athens zur Demokratie stehend gesehen worden. Sicherlich ist sie als des Dichters Antwort auf die Entmachtung des Areopag eine nicht hoch genug einzuschätzende intellektuelle, künstlerische und politische Leistung.

Unser Blick würdigt diese Tatsache aber nur am Rande, als Festigung der These der starken politischen Dimension der Gattung Tragödie, und wendet sich inhaltlich dem in seiner Bedeutung weniger offensichtlichen Einzelaspekt der Frauendarstellung zu.

Hier nun eine kurze Inhaltsangabe, die versucht, den speziellen Blickwinkel im besonderen zu öffnen (ohne den allgemeinen zu sehr zu verengen):

Die Griechen hatten den Göttern die günstigen Winde zum Aufbruch nach Troja nur durch die Opferung der Iphigenie in Aulis abhandeln können. Deren Vater Agamemnon, Bruder des von Helena verlassenen Menelaos und Führer der Griechen, hatte das Opfer vollzogen. Nach zehn Jahren war Troja erobert und zerstört und die überlebenden Sieger machten sich auf den Heimweg.

Auch Agamemnon ist auf dem Weg in seine Heimat Argos. Hier setzt das nach ihm betitelte Stück ein.

Agamemnons Gattin Klytaimestra, Schwester der Helena, Königin von Argos und als „Wachhündin" offenbar akzeptierte Verwalterin des Reiches (denn

 

„Recht ist es ja des Herrn zu ehren, des Herrschenden,

Gemahlin, wenn beraubt des Mannes steht der Thron." ) informiert den Chor der Greise von Argos über die Zerstörung Trojas und die bevorstehende Rückkehr des Königs.

Agamemnon führt als Beutestück die Seherin Kassandra, Tochter des Priamos und Schwester des kriegsauslösenden Paris, mit sich und erwartet von seiner Frau offensichtlich die Akzeptierung seiner neuen Sklavin. Klytaimestra macht gute Miene zum bösen Spiel, schmeichelt dem Gatten und bittet ihn auf einem Ehrenteppich in den Palast. Agamemnon kommt der Aufforderung zögernd nach.

Kassandra reagiert nicht auf die Aufforderung zum Betreten des Palastes. Statt dessen offenbart sie eine Vision:

 

„Der Flotte Führer, Ilions Bewältiger,

Weiß nicht, wie die verhaßte Hündin, mit der Zung

Ihn leckend, streckend ihm ihr schmeichelnd Ohr wie ein

Lauernd Verderben, bald ihm Glück ihm Unglück schafft.

Solch wildes Wagnis: Weib - des Mannes Mörderin."

Klytaimestra wird Agamemnon töten. Kassandra sieht aber auch, daß sie selbst nicht verschont werden wird, weist aber auch schon auf Orestes, den Sohn des Herrscherpaares, hin, der seinen Vater Agamemnon und damit auch Kassandra an der Mutter rächen wird. Jedoch - man glaubt den Kassandra-Rufen nicht. Die Seherin fügt sich dem Schicksal und betritt den Palast.

Von innen hört man die Schreie des Königs. Klytaimestra tritt blutbespritzt vor den Palast und berichtet triumphierend wie sie Agamemnon mit einem Netz gefangen und, ebenso wie Kassandra, mit einem Beil erschlagen hat.

Der Haß auf ihren Mann entspringt neben der seinerzeitigen Opferung der gemeinsamen Tochter den Liebschaften Agamemnons vor Troja. Gleichzeitig offenbart Klytaimestra aber, selbst ein Verhältnis mit Aigisthos, dem Vetter des Agamemnon, zu haben.

Wenngleich auch der Chor vorher Agamemnon wegen der Opferung Iphigenies verurteilt hat, ist er schockiert über die Tat, der von ihm anfangs noch für besonnen „wie ein Mann" gehaltenen Klytaimestra. Diese beginnt, fatalistisch-entschuldigend ihre Tat mit dem auf dem Atridenhaus lastenden Fluch zu begründen.

Für den nun auftretenden Aigisthos hat der Chor nur Verachtung übrig:

 

„Du also hast hier diesem Mann aus feiger Seel

Nicht selbst den Tod gegeben? Nein, ihn mußt’ ein Weib,

Des Landes Schandmal und der heimschen Götter Greul,

Meucheln;..."

Klytaimestra, mittlerweile viel weniger selbstgewiß auftretend, muß Handgreiflichkeiten zwischen Aigisthos und dem Chor der Alten, der den Mördern dann mit der Rache des Orestes droht, verhindern.

 

Aischylos hat seine dichterische Freiheit wahrgenommen. Klytaimestra wird erst bei ihm zur alleinigen Täterin - anders als bei Homer, wo im dritten Gesang der Odyssee Aigisthos den Mord ausführt.

Bei Aischylos steht die tragische Hilflosigkeit der trojanischen Königstochter gegen die schreckliche Rache der Königin von Argos. Die Protagonistin der schrecklichen Rache ist von Aischylos vielschichtiger gestaltet: Klytaimestra verstellt sich erst, offenbart sich dann in Tat und Wort mit rauschhafter Intensität, um dann schließlich eine gewisse vorsichtige Unsicherheit ob der Richtigkeit ihres Handelns durchscheinen zu lassen. So gibt sie dem ihrem Mann vorauseilenden Herold folgendes mit auf den Weg:

 

„Aufs allerbeste meinem ehrbaren Gemahl

Rüst eilends ich zur Heimkehr den Empfang. Denn was

Gibt’s einem Weibe Süßres, als den Tag zu schaun,

Da sie dem Mann, dem heim vom Feldzug half ein Gott,

Die Türe auftut? Dies verkünde dem Gemahl:

Kommen soll er aufs schnellste, höchst ersehnt der Stadt,

Ein treues Weib im Hause find er, wenn er kommt,

So wie er sie dort ließ: dem Haus als Wachhündin,

Wohlmeinend ihm, feindlich den Bösgesinnten all;..."

Und dann, in Gegenwart Agamemnons, spricht sie zum Chor:

 

„Ihr werten Bürger, Älteste des Argosvolks,

Nicht fühl ich Scham mehr, meine Liebe zu dem Mann

Vor Euch zu zeigen (...)

Schon daß ein Weib - zuförderst dies! - vom Mann getrennt

Dasitzt im Hause einsam, ist ein grausam Leid;..." ,

und nennt den Gatten

 

„Des schönsten Lenztags Anblick nach des Winters Not,

Dürstendem Wandersmann der Quelle strömend Naß."

Nach der Tat verkündet sie, die alleinige, von niemandem in der Ausführung und vielleicht nicht einmal in der Planung der Tat unterstützte, Mörderin, noch blutbespritzt:

 

„Von vielem - vordem, weil es nottat, vorgebracht -

Das Gegenteil zu sagen, heg ich keine Scheu. (...)

Da’s so nun steht, ihr Greise des Argeiervolks,

Freut ihr euch, wenn’s euch freut; ich - jauchze auf vor Glück. (...)

Da liegt, der seinem Weib hier Schmach und Unrecht tat,

Der Chrysestöchter Herzensschatz vor Ilion;

Die Kriegsgefangne - hier! Die Zeichendeuterin

Und Beischläfrin von dem dort, die Wahrsagerin

Getreuer Bettschatz ihm, die Schiffsverdeckes Bank

Mit ihm gedrückt! Doch ungestraft nicht taten sie’s:

Denn dem ging’s so! Und die, als sie nach Schwanes Art

Den letzten noch gesungen, ihren Sterbesang,

Liegt - da! Sein Herzenslieb, mir aber brachte er

Sie her als leckre Zukost meiner Schwelgerei."

Klytaimestra hat also „weil es nottat" in der erfolgten Weise gesprochen. Die Schmeichelei gegenüber Agamemnon war tatsächlich gespielt und der Mord lange vorbereitet. Ihre Wandlung von Liebreiz zu Haß ist nur eine scheinbare. Jedoch ist, wenngleich die Opferung der Tochter für Klytaimestra das Hauptvergehen Agamemnons darstellt, nicht auszuschließen, daß sie die Ankunft der Sklavin des Mannes kurzfristig noch verstärkt in Wut bringt. Die Breite und die Schärfe der Ausführungen zur Untreue des Mannes sprechen dafür.

Mit mehr Distanz zur Tat begegnet Klytaimestra den Vorwürfen des Chores später mit der Hoffnung - nicht mehr der Gewißheit - daß die Morde gerechtfertigt, sinnvoll und notwendig waren:

 

„...Ich jedoch

Schlösse gern mit dem Fluchgeist des Pleisthenesstamms

Einen Pakt nun ab: was geschehn, ihm genüg’s!

Kaum erträglich schon ist’s; doch in Zukunft geh

Er aus unserem Haus, laß ein andres Geschlecht

Sich zerfleischen durch Mord an dem eigenen Blut!

Blieb an Schätzen ein Teil, ein geringer, mir nur,

Mir genügt’ es vollauf, wenn den Wahnsinn dem Haus

Abwechselnden Mordes ich fortnahm!"

 

Die Hinweise Kassandras und des Chores auf Orestes öffnen den Agamemnon in Richtung auf das zweite Stück der Orestie, die Weihgußträgerinnen.

Hösle formuliert den faszinierenden Aspekt der unter dem geschlechtsspezifischen Gesichtspunkt parallelen Struktur dieser beiden Werke: „Im ‘Agamemnon’ tötet eine Frau - Klytaimestra - einen Mann; sie beansprucht dies zu tun, um eine Frau, ihre Tochter Iphigenie, zu rächen. Ihr zur Seite steht ein Mann, Aigisth, der sich jedoch nur an der Planung, nicht an der Ausführung des Mordes beteiligt. In den Sog des Untergangs des Helden gerät seine Geliebte, auch sie wird getötet. Der Chor des Stückes besteht - komplementär zu dem vorherrschend weiblichen Charakter des Stückes - aus Männern. In den ‘Choephoren’ hingegen rächt ein Mann - Orest - an einer Frau einen Mann; er wird bei seinen Vorbereitungen, nicht jedoch bei der Tat unterstützt von einer Frau, Elektra. Im Laufe seiner Rache beseitigt Orest auch den Geliebten seiner Mutter. Der Chor der ‘Choephoren’ ist weiblich."

3.2.2.2 Antigone

Die Antigone wurde vermutlich 443 oder 442 an den Großen Dionysien in dem in Abschnitt 2.2.2 geschilderten Rahmen auf die Bühne gebracht. Bis heute wird sie mit bleibender Begeisterung immer wieder als politisches Stück - als Drama vom Widerstand gegen die Staatsgewalt - auf die Bühne gebracht. Diese dem Stück beigemessene Aktualität soll jedoch außen vor bleiben.

Maßgeblich sind Aufführungs- und Wirkungsgeschichte in der Entstehungszeit. Die politischen Bezüge der Antigone durchdringen das Werk auf das Stärkste und werden auch zu damaliger Zeit von hoher Bedeutung gewesen sein. Jedoch scheinen die genannten Aspekte, auf die sich das Stück heute oft begrenzt, zu kurz gegriffen. Nicht zu unterschätzen ist z.B. die starke Bedeutung der Götter, die zu damaliger Zeit als eng verwoben mit Politik und Staat gesehen werden müssen, und im gegebenen Zusammenhang natürlich das Geschlechterverhältnis.

Zum Stück selbst: Nachdem sich Eteokles und Polyneikes, die Söhne des Oidipus und (dessen Mutter und Gattin) Iokaste, nicht über die Regierungsabfolge nach der Verbannung des Oidipus einigen können, und sich Eteokles nach dem vereinbarten Zeitraum weigert, seinem Bruder die Macht zu übertragen, zieht Polyneikes mit Kampfgefährten gegen die Heimatstadt Theben. Im Kampf kommen beide Brüder ums Leben. Die Macht in Theben übernimmt Iokastes Bruder Kreon, dessen erste Handlung darin besteht, ein Bestattungsverbot gegen den Angreifer Polyneikes auszusprechen. In dieser Konstellation setzt die Tragödie ein.

Antigone, die Schwester der beiden Toten, fordert die andere Schwester Ismene auf, den Toten gemäß altem religiösen Brauch und entgegen dem Verbot des Kreon zu bestatten. Ismene lehnt dies ab:

 

„Vielmehr laß’ uns bedenken, daß wir Frauen und

zum Kampfe gegen Männer nicht geschaffen sind,

auch dieses, daß wir, untertan den Herrschenden

gehorchen müssen dem Gebot und schlimmren noch!

Ich werde beten zu den Unterirdischen,

daß sie verzeihn: ich beuge mich ja nur dem Zwang."

Antigone will daraufhin die „Tat" allein vollbringen. Sie wird bei der (eher symbolischen als tatsächlichen) Bestattung jedoch ertappt und Kreon vorgeführt, der auf das Vergehen die Todesstrafe ausgesetzt hat. Als Täter ist wie selbstverständlich ein Mann erwartet worden. Antigone wird zur Rede gestellt.

Kreon reagiert erzürnt auf Antigones Relativierung seines Machtanspruchs angesichts der göttlichen Autorität ungeschriebener Gesetze und verurteilt seine Nichte zum Tode.

Ismene will jetzt solidarisch die Tat wie die Bestrafung gemeinsam mit der Schwester auf sich nehmen, wird von Antigone aber schroff abgewiesen.

Der Chor, der Kronrat des Kreon, sieht in dem Schicksal der Schwestern die Erfüllung des Fluches des Geschlechtes der Labdakiden.

Haimon, der Verlobte der Antigone und Sohn Kreons informiert den Vater, daß die Stadt Antigones Schicksal und das Urteil bedauert. Es kommt zu einem Streit zwischen Haimon und Kreon über die Rolle des Volkes und dem dem Staat Vorstehenden, in dem Kreon die Unbeschränktheit des Herrschers vertritt, was sein Sohn nicht akzeptieren kann.

Kreon ist wütend und will Antigone vor Haimons Augen hinrichten lassen. Haimon stürzt davon.

Der Herrscher bleibt unerschütterlich bis der greise Seher Teiresias versucht, ihn von seinem Urteil abzubringen. Kreon schickt den Seher erbost fort, worauf Teiresias ihn verflucht. Verwirrt bleibt Kreon zurück. Gedrängt vom Chor will er nun das Urteil rückgängig machen, aber es ist zu spät: Nachdem er Polyneikes hat bestatten lassen, stellt er fest, daß Antigone sich erhängt hat. Im Angesicht der toten Antigone ersticht sich Haimon vor Kreons Augen. Als Kreons Frau Eurydike die Nachricht vom Tod des Sohnes erhält, verflucht sie ihren Mann, um sich anschließend zu erhängen. Kreon ist gebrochen.

 

Die Ursprünge des Mythos um das Geschlecht des Oidipus scheinen im 13. Jh. v.Chr. zu liegen, eine dem Homer zugeschriebene aber verlorengegangene Bearbeitung des Stoffes aus dem 8. Jh. war bekannt. Aischylos hatte 467 eine geschlossene Trilogie zum Thema vorgelegt. Die Geschichte war lebendig, der Mythos war vertraut.

Im starren, großen Rahmen um den Labdakidenfluch nahm sich Sophokles nun aber Freiheiten bei der Person der Antigone heraus. Diese war bei Homer, wenn überhaupt bekannt, vermutlich eher unwichtig. Aischylos kennt beide Schwestern, Sophokles aber macht die Antigone zur Hauptfigur und gibt ihr die seitdem prägende Gestalt.

Kern der Tragödie ist die Gegenüberstellung von Gegensätzen, derer sich viele finden wie z.B. die von Staat und Individuum, Staat und Religion, positivem und Naturrecht, den Lebenden und den Toten, jung und alt, Adel und gemeinem Volk und eben Mann und Frau.

Letztere Polarität stellt hier Kreon der Ismene entgegen - nicht Antigone, die ja aus der gängigen Rolle ausbricht und kaum einen Gegensatz zu Kreon darzustellen in der Lage ist. Antigone agiert in einer eher männlichen Rolle. Die Figur der Antigone steht besser für den Gegensatz von Rollenerwartungen und (Nicht-) Erfüllung dieser Erwartungen. Vielleicht kommt der für die Zeitgenossen in geschlechtsspezifischer Hinsicht erstaunlichste Gegensatz in der Gegenüberstellung Ismene - Antigone zur Geltung.

Zugleich muß man aber sehen, daß Antigone zwar die Stärke zur unkonventionellen Handlung aufbringt, nichtsdestotrotz aber lieber nicht zu dieser Konsequenz gezwungen worden wäre und die gängige Frauenrolle (wenigstens teilweise) verinnerlicht hat, wenn sie in ihrer selbst angestimmten Totenklage die Ehe- und Kinderlosigkeit bedauert:

 

„Und jetzt ergreift er mit Gewalt mich, treibt mich fort:

kein Brautlied, keine Hochzeit, keines Ehebunds

Beglückung ward zuteil mir, Kinder nährt’ ich nicht;

verlassen von den Lieben, ich Unselige, komm’

ich lebend in des Todes unterirdisch Reich."

Und wenn Antigone schon die übliche Stellung der Frau anstrebt, muß man dann nicht weiterfragen: Ist ihre Tat überhaupt ungewöhnlich? Wäre eine, wenn auch eher symbolische, Bestattung eines Familienmitglieds als zum Oikos gehörende Handlung von einer Frau, deren Sphäre doch der Oikos, die Familie ist, nicht geradezu zu erwarten?

Ihr Gegenstand mag „weiblich" sein - ihr Mittel ist „männlich", ihr Aktionsfeld ist die Öffentlichkeit. Sie tritt für den Oikos ein, aber sie tut es in der Polis.

Als nächstem männlichen Angehörigen der Toten wäre es an Kreon gewesen, für eine angemessene Bestattung zu sorgen. Er tut dies nicht, und man kann gute Gründe für seine Entscheidung anführen. Wichtig im gegebenen Zusammenhang ist nur, daß Antigone diese Gründe offenbar nicht akzeptieren kann. Sie sieht sich aufgrund männlichen Versagens gezwungen, ihrerseits den männlichen Part, die aktive Handlung zu übernehmen: Und zwar zugunsten der Familie gegen den Staat, zugunsten göttlichen Rechts gegen gesetztes Recht -für die alten Werte gegen moderne Rationalität, für weibliche und gegen männliche Sphäre und Werte.

Welchem Gegensatzpaar oder Widerspruch die höchste Bedeutung zukommt, ist Interpretationssache. Festzuhalten ist aber, daß jeder Aspekt eines hier angesprochenen oder angedeuteten Gegensatzes einen gewissen Anspruch auf Gültigkeit als soziale Norm geltend machen kann. Es gibt in der Antigone so wenig absolute Wahrheiten wie im 5. Jh. Es gilt abzuwägen, es gilt zu diskutieren. Und es zeigt sich, daß die real stärkere Norm nicht notwendig die überlegene, die richtige ist.

Was folgt daraus? Gibt es ein Widerstandsrecht gegen Patriarchat, Alter, Staat?

Oder kann alles bedingungslos umgeworfen werden, neugeordnet, ohne daß alte, überlieferte Erkenntnisse noch Beachtung fänden? Haben alte Werte und Normen noch Bedeutung?

Ungeheure Fragen. Aber:

 

„Vieles ist ungeheuer, nichts

ungeheuerer als der Mensch. (...)

Mit kluger Geschicklichkeit für

die Kunst ohne Maßen begabt,

kommt heut er auf Schlimmes, auf Edles morgen..."

- Eine Warnung vor den unheimlichen Fähigkeiten der Menschen, mit Hilfe dieser ihren Machtbereich immer weiter in das Reich der Natur hineinzuverschieben aber gleichzeitig Bewunderung und Staunen über das, was der Mensch bereits zu Wege gebracht hat.

3.2.2.3 Medeia

Die bis heute immer wieder aufgeführte und auch von vielen Dichtern als Stoff aufgenommene Medea wurde im Jahre 413 (zusammen mit den verlorengegangenen Stücken Philoktetes und Diktys) aufgeführt, und Euripides belegte damit nur den dritten Platz.

 

Jason konnte sich mit Medeias Hilfe des Goldenen Vlieses bemächtigen. Danach nahm er Rache an seinem Onkel Pelias, von dem er einst vertrieben worden war, und fand daraufhin mit seiner Frau Medeia Zuflucht in Korinth. Dort verläßt er Medeia und die beiden gemeinsamen Kinder, um die Tochter des korinthischen Königs Kreon zu heiraten.

Von dieser Vorgeschichte ausgehend, setzt in dieser Situation die Tragödie des Euripides ein: Kreon verweist Medeia und die Kinder des Landes. Medeia erbittet einen Tag Aufschub und plant, an diesem Tag Kreon und seine Tochter, die Braut Jasons zu töten. In dieser Situation erscheint der athenische König Aigeus, der zusichert, Medeia und ihren Kindern Asyl zu gewähren. Medeia, die als Heilerin gilt, verspricht ihm im Gegenzug Erlösung von seiner Kinderlosigkeit. Sie schickt daraufhin ihre Kinder mit Versöhnungsgeschenken zur Braut von Jason. Diese Geschenke werden freudig aufgenommen. Allerdings sind sie vergiftet und sowohl Kreon als auch seine Tochter sterben. Vor ihrer Flucht tötet Medeia auch ihre und Jasons gemeinsame Kinder, um anschließend mit den Leichen auf einem von Drachen gezogenen Wagen, der über dem Haus schwebt, nach Athen zu entfliehen.

 

Dieser Handlungsablauf, den die Medeia-Figur durch die nahezu permanente Anwesenheit auf der Bühne dominiert, ist im Mythos nicht in allen von Euripides vermittelten Facetten enthalten. Ursprünglich ist Medeia nur eine Nebenfigur der Argonautensage. Allerdings sind einige der Details der Figur auch schon vor Euripides bekannt und werden von diesem vorausgesetzt, so z.B. die Tatsache, daß Medeia über Zauberkräfte verfügt und daß sie ihren Bruder ermordet hat, um ihre und Jasons Verfolgung zu verzögern. Bereits vor Euripides ist also Medeia eine Person, die durch den Mythos bekannt war und eine eher negativ belegte Gestalt darstellte. Die Tatsache, daß sie Jason zum Vlies verhalf und ihren Bruder tötete, lassen sie nicht im mindesten der Erwartungshaltung an eine Frau in Athen entsprechen, und die Tatsache, daß sie über Zauberkräfte verfügt, machte die Gestalt auch noch unheimlich und gefährlich. Bezüglich des Aufenthaltes von Medeia und Jason in Korinth, besonders aber bezüglich des Kindermordes beschreitet Euripides neue Wege. Der Ursprung-Mythos besagte, daß die Kinder an einer Krankheit gestorben seien, auch die wohlgemeinten Zauberkräfte könnten daran schuld gewesen sein, als Medeia versuchte, die Kinder unsterblich zu machen.

Euripides hat „...als erster aus dem vielfältigen (Medeia-) Stoff eine kurzfristige Handlung herausgeschnitten und das wichtige Motiv des Kindermordes eingeführt..."

Das euripideische Stück behandelt trotz der Familienproblematik nicht nur den Bereich des Oikos. Vielmehr liegt auch ein Spannungsverhältnis zwischen Polis und Oikos vor. Kreon als Staatsoberhaupt verfügt die Ausweisung Medeias und der Kinder und dringt damit mit der Staatsgewalt in den Oikos-Bereich ein, der ihm eigentlich - so jedenfalls nach athenischem Verständnis - verschlossen sein müßte. Wie Jason mit seiner verstoßenen Frau weiter verfährt, wäre nach athenischer Auffassung einzig und allein seine Sache gewesen. Umgekehrt wirkt hier auch der Oikos auf die Polis zurück. Denn mit der Tötung Kreons und seiner Tochter durch Medeia wird durch die Einzeltat eines Oikos-Mitgliedes eine Staatsgewalt ausgelöscht, so daß erst einmal ein Vakuum entsteht. Ob Medeia diese Dimension allerdings sieht, ist nicht festzustellen. Sie äußert sich nicht dahingehend und stellt zudem nicht über das gesamte Stück eine gleichförmige Person dar, deren Willen und Walten unbeirrt nur dahin geht, Kreon, seine Tochter und die Kinder zu töten.

 

„Wir erleben Medeia im Verlaufe des Dramas in den verschiedensten Gefühlslagen: hilflos klagend, innerlich zerrissen, aggressiv, aber auch berechnend planend und kalt erhaben."

Am Anfang des Stückes beklagt sie ihr Schicksal und das Schicksal aller Frauen:

 

„Von allem, was da Leben hat und Seele,

Sind doch wir Frau’n das traurigste Gewächs.

Erst müssen wir für teures Geld den Gatten

Uns kaufen, dann verfügt er über uns

Als Herr; ist das nicht schlimmer noch als schlimm?(...)

Der Mann, wenn ihn die Hausgenossen ärgern,

Geht aus und heilt sein Herz von dem Verdruß;

Verwandte, Jugendfreunde sucht er auf.

Wir hangen ganz nur von dem Einen ab.

Man sagt, wir leben friedlich, ungefährdet

Im Hause, wenn sie gehn zum Lanzenkampf.

Wie töricht! Lieber will ich dreimal stehn

Im Schildgedräng’ als einmal niederkommen."

Sie stellt sich selbst in der hilflosen, duldenden Rolle dar. Anschließend grenzt sie ihre Hauptaufgabe auf das Gebären ein. Denn laut ihren eigenen Aussagen wäre es verzeihlich, wenn Jason sich neu vermählt hätte, hätte er mit ihr keine Kinder gehabt.

Erst nach einem Gespräch mit Jason, in dem dieser sich voll im Recht sieht und sich als Wohltäter hinstellt, da er beabsichtige, Brüder für die Söhne zu zeugen und so deren gesellschaftliche Stellung zu verbessern, überkommt Medeia Haß und Tatendrang. Sowohl in ihren Klagen als auch in ihrem Aktionismus gegen Jasons Braut findet Medeia die volle Zustimmung des Chores korinthischer Bürgerinnen.

Zum Kindermord entscheidet sich Medeia nur unter größten Qualen und weiß, daß sie sich selbst mit der schrecklichen Tat unglücklich machen wird:

 

„Auf, arme Mutterhand, nimm jetzt das Schwert!

Tritt in die Schranken ein des Kummerlebens..."

Der Chor ist aufgewühlt und beschimpft Medeia, weil sie beabsichtigt, die Kinder zu töten. Der vorher vollzogene Mord an Kreon und seiner Tochter findet hingegen seine Zustimmung.

Nachdem Medeia die Kinder getötet hat, zeigt sie nur noch überhebliches, verbittertes Verhalten. Sie hat ihr Ziel erreicht. Wenn schon nicht mit ihr, soll Jason gar keinen Oikos mehr haben. Alle seine Bezugspunkt und Beziehungsgeflechte sollen zerschlagen werden, was einer Isolation in der Gesellschaft gleichkommt. So ist denn auch die Klage das einzige, was Jason bleibt. Ohne Kinder stirbt sein Geschlecht aus und ohne Familiengründung, die man ihm mit Tötung seiner Braut versagt hat, fehlt ihm ein wesentlicher Bestandteil zu gesellschaftlicher Anerkennung.

Eine Frau bringt die gesellschaftliche Stellung eines Mannes und diesen selbst zu Fall! Aber was für eine Frau? Hier macht Euripides eine Einschränkung bezüglich der Übertragbarkeit auf die Familienverhältnisse des athenischen Bürgers. Medeia ist keine normale Bürgerin - sie ist eine Fremde! Medeia ist in erster Linie Frau, in zweiter jedoch Barbarin - ein Geschöpf, das sowieso schon mißtrauisch beäugt wird, bis auf die Kinder keine Blutsverwandten und keine Position in der Polis hat.

Vielleicht als Ausfluß dieser Fremdheit wird Medeia Individualität zugebilligt. Sie unterscheidet sich durch ihre Eigenschaften (Zauberei) und eine Fähigkeit zum eigenständigen Handeln von den anderen Frauen - dem Chor, der erst durch Medeias Ausführungen dazu gebracht wird, den Mord an Kreon und Tochter gutzuheißen und anfangs immer nur die Situation der Frau allgemein beklagt. Jason sagt am Ende des Stückes, daß nur eine Barbarin so handeln konnte. Aber konnte das wirklich nur sie? Auch der Chor befürwortet schließlich immer mehr Medeias Handeln - und der Chor besteht aus griechischen Bürgerinnen!

Was Jason seiner Frau antut ist eigentlich nichts besonderes. Es wird vom Chor anfangs auch nur als bedauernswert, nicht jedoch als ungehörig vermittelt. Statt dessen hofft der Chor, daß ihm selbst so etwas nicht passiert. Die Tragödie wird erst möglich, weil man es mit Medeia zu tun hat. Sie verfügt über eine Art Ehrenkodex, was ihr etwas Männliches gibt, und zum Aktionismus führt, falls gegen bestimmte Regeln verstoßen wird. Sie wäre in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter verblieben, wenn Jason nicht die Ehe gelöst und ihre Ausweisung unterstützt hätte. Medeia liebt ihre Kinder. Aber die beabsichtigte Zerstörung der Familie durch Jason lassen bei ihr „Menschlichkeit gegenüber Kriegerethik zurücktreten" - ein Zug, den man von einer Frau nicht unbedingt erwartete.

Medeia beschreitet den Weg von Jasons Zerstörung, obwohl sie weiß, daß sie mit ihrer Tat ihre neue Heimat, das Haus und ihr Leben zerstört, denn ohne die Kinder ist auch sie gebrochen. Sie flieht zwar gottartig auf einem Drachenwagen, Richter und Prophet in erhabenem Ton gegenüber Jason zugleich, „...but Medea the woman is dead."

Niemals sucht Medeia nach einem Lösungsweg, der vielleicht sie und die Kinder glücklich machen könnte, z.B. ein völlig neues Leben allein und nur mit den Kindern. Ob sie einen solchen Weg nicht sehen will oder aber nicht sieht, weil sie weiß, daß ein alleinstehendes Leben für eine Frau nicht möglich ist, wird nicht angesprochen. Die aktive und ideenreiche Medeia entschließt sich erst zum Handeln, als Aigeus ihr die Zuflucht in Athen in Aussicht gestellt hat. Auch sie geht demzufolge davon aus, daß ein weibliches Leben ohne männlichen Schutz schlichtweg unmöglich ist. Auch die kraftvolle, aktive Medeia braucht zu der letztlichen Beendigung ihres Planes einen Mann.

3.2.2.4 Hekabe

Die Hekabe ist wohl in die 20er Jahre des 5. Jh. zu datieren. Welchen Platz Euripides mit ihr belegt hat, ist nicht bekannt.

 

Nach dem Sieg der Griechen über Troja werden die überlebenden Frauen auf die Sieger verteilt. Hekabe, die Witwe des Priamos, wird Odysseus zugesprochen, ihre Tochter Kassandra dem Agamemnon.

Die Tragödie spielt im Schiffslager der Griechen. Sie setzt in der geschilderten Lage ein:

Der Geist des Achilleus fordert als Menschenopfer Polyxena, eine von Hekabes Töchtern. Obwohl Hekabe die Opferung abzuwenden sucht und sich sogar selbst anbietet, bleibt die Entscheidung bestehen und Polyxena wird getötet. Kurze Zeit später wird die verstümmelte

 

Leiche des Polydoros am Strand angespült. Polydoros, Hekabes Sohn, war von Priamos zu einem Freund, Polymestor, gebracht worden, um ihn vor den Kriegswirren zu schützen. Polymestor hatte Polydoros jedoch aus Habgier ermorden lassen. Gerade jener Polymestor kündigt jetzt seinen Besuch im Heerlager an. Hekabe lockt ihn und seine Söhne in ihr Zelt und bringt zusammen mit anderen Frauen seine Söhne um. Ihn selbst blenden sie. Als Polymestor Hekabe vor Agamemnon anklagt, gibt Agamemnon Hekabe Recht. Polymestor verflucht beide und prophezeit Agamemnon seinen Tod und Hekabe die Verwandlung in einen Hund.

 

Die Ursprünge der Hekabe-Figur finden sich schon bei Homer, wo Hekabe mehrmals - allerdings stets als Nebenfigur - auftaucht. Auch Sophokles hatte sich in seinem (verlorengegangenen) Alexandros bereits mit der Hekabe beschäftigt.

Euripides stellt die Hekabe in einem „Lumpendrama" dar, beschreibt eine Gestalt, die innerhalb kürzester Zeit von höchsten Höhen (Königin) zu tiefsten Tiefen (Sklavin) gesunken ist und sich gerade mit diesem Fall, der unmittelbar zuvor erfolgte, auseinandersetzt.

Die Handlung der Tragödie spielt sich im Oikos-Polis-Bereich ab. Teile der unterlegenen Oikoi der Trojaner werden Bestandteil der Oikoi der Griechen. In der Situation des Feldlagers sind die Vorsteher dieser griechischen Oikoi aber auch gleichzeitig die Polis - die staatsähnliche Ordnungsgewalt. Interessant ist außerdem der Aspekt, daß sich aufgrund dieser Konstellation des Heerlagers ergibt, daß der griechische Oikos-Polis-Bereich nur von Männern, der trojanische Oikos hingegen nur mit Frauen besetzt ist. Mit Hekabe, der Hauptperson des Stückes, tritt uns wiederum keine geschlossene und fertige Figur gegenüber, sondern eine Frau, die sich (und deren Verhalten sich) aufgrund äußerer Einflüsse verändert. Am Anfang des Stückes begegnet uns eine hilflose, ja eine gebrochene Hekabe, die ihr Schicksal beklagt und für sich keine Hoffnung mehr sieht:

 

„O ich Arme! Soll ich um Hilfe noch schrei’n

Oder nur wehklagen mit Jammergetön?

Macht nicht mein Alter mich hilflos,

Hilflos die unleidliche Knechtschaft,

Die ganz unerträgliche? Weh mir!

Wer kann mich beschirmen noch? welches Geschlecht?

Welch Staat? welch Volk?

Tot ist ja der Alte, die Söhne sind tot."

Unterstützt wird sie dabei vom Chor ebenfalls gefangener trojanischer Frauen, die das ganze Stück nicht über das Bejammern ihres Schicksals hinauskommen.

Erst als nach dem Opferungsbeschluß bezüglich Polyxena Odysseus auftaucht, versucht Hekabe sich zu sammeln und Odysseus davon zu überzeugen, Polyxena nicht zu töten. Sie versucht ihm darzustellen, daß sie ihm einst geholfen hat und als dies nichts fruchtet, bittet sie ihn, sie - Hekabe - zu töten. Sie unterliegt. Odysseus sieht sie zwar scheinbar als gleichberechtigte Diskussionspartnerin an und nimmt ihre Argumente zur Kenntnis, bleibt jedoch bei dem Beschluß, da der tote Achilleus es so gefordert habe. Hekabes Argumentation steigert sich während der Diskussion langsam vom rationalen Argument, zu starrköpfigem Wollen, Drohen mit physischem Widerstand bis zum letztlichen physischen Zusammenbruch - von der duldsamen Ergebenheit einer Frau und Sklavin keine Spur.

Auch das in vielen Tragödien Frauen zugeschriebene Flehen fehlt. Hekabe reagiert eher männlich, argumentativ, und, als das nichts hilft, mit körperlicher Gewalt. Erst als ihre Erfolglosigkeit offenbar wird, bricht sie zusammen.

Ganz im Gegensatz dazu steht Polyxena, auf die auch kurz der Blick gelenkt werden soll. Polyxena, die ursprünglich wohl eher eine untergeordnete Rolle spielte und erst von Sophokles in den Blick gerückt wurde, zeigt sich als „aktives Opfer" und entspricht dem Bürgerinnen-Ideal. Sie ist als Freie aufgewachsen und will lieber tot als versklavt sein. Sie wünscht ihren Tod:

 

„Wer nicht gewohnt ist, Ungemach zu kosten,

Trägt wohl sein Joch, doch schmerzt es ihn im Nacken.

Tod ist für ihn ein bess’res Los als als Leben.

Ein Leben, das nicht schön, ist bittre Pein."

- Und klagt nie um ihre eigene Person. Sie bedauert nur die Mutter, die jetzt allein ist. Ein Bote berichtet anerkennend von ihrem Opfertod.

Erst als Hekabe noch zusätzlich vom Tod des Polydoros erfährt, nährt sie Wut und Rachegedanken und weiht auch sofort Agamemnon ein, den sie um Mithilfe bittet. Agamemnon lehnt dieses Ansinnen ab, ist aber bereit, Hekabes Aktionen zu dulden, da auch er Polymestor, der das für die Griechen hochheilige Gastrecht mißbraucht hat, bestraft sehen wolle. Hekabe entschließt sich daher, selbst einen Plan zur Bestrafung auszudenken und mit den anderen gefangenen Trojanerinnen auch selbst auszuführen. Eine Aktion, an die Agamemnon schwer glauben kann („Frau’n könnten Männer überwältigen?" ), die er aber duldet und Hekabe sogar Erfolg wünscht. Hekabe verhält sich hier zwar äußerst aktiv, aber auch sie würde am liebsten gemeinsam mit einem Mann handeln. Und obwohl sie dann gezwungenermaßen allein agiert, ist sie dennoch auf die indirekte Mithilfe eines Mannes angewiesen und sei es nur in Form der Duldung ihrer Tat.

Listig überzeugt sie Polymestor, ihr ins Zelt zu folgen, wo die Rache erfolgt. Auch hier taucht wieder die Konstellation auf, daß der Mann nicht selbst getötet wird. Stattdessen vernichtet man mit seinen Nachkommen seinen Oikos und sein Geschlecht - das Schlimmste, was einem athenischen Bürger widerfahren konnte. Im anschließenden Dialog mit Agamemnon bezeichnet Polymestor die Frauen als entsetzlich:

 

„... Um nicht Worte zu verschwenden,

Will ich, was je von Frau’n man übles sprach

Und jetzt spricht und in Zukunft sprechen wird,

In diesem kurzen Spruch zusammenfassen:

Auf Land und Meer gibt’s kein furchtbareres

Geschlecht als sie."

Er lügt und versucht, sich herauszureden, Hekabe hingegen argumentiert sachlich, engagiert und vor allem: griechisch. Sie weiß wie hoch für die Griechen das Gastrecht zählt, und gerade auf dieser Schiene läuft ihre Argumentation: Polymestor habe in der Tötung des Polydoros seine Gastpflicht derart verletzt, daß die Strafe gar nicht hoch genug sein könne.

Hekabe setzt hier äußerst geschickt das griechische Denken und den Verweis auf göttliche Gesetze für ihren Plan ein. Sie tut dies, um zu überzeugen und die Rache im Nachhinein durch Agamemnon bestätigen zu lassen, denn Rache für die Verletzung des Gastrechtes ist zwar gesellschaftlich sanktioniert, steht ihr als Frau jedoch auf keinen Fall zu. Als Gefangene befindet sie sich zudem außerhalb des Gesellschaftsgefüges und hat überhaupt keine Rechte. Aufgrund ihrer klugen Argumentation kann Agamemnon, dem seine Entscheidungsaufgabe äußerst lästig ist, gar nicht anders. Er muß Hekabe Recht geben, denn das Gastrecht ist heilig. Polymestor ist entsetzt. Offenbar nicht wegen der Entscheidung an sich, sondern weil Hekabe - eine Frau - Recht bekommt:

 

„Ein Weib soll mich besiegen? eine Sklavin?

Die meinesgleichen nicht, mich büßen lassen?"

So scheint eine Frau, wenn sie auch ihre Familie verloren hat und Gefangene ist, doch den Sieg in einer Auseinandersetzung davonzutragen. Scheint! Denn nur zwölf Zeilen später prophezeit Polymestor, Agamemnon werde getötet und Hekabe in eine Hündin verwandelt werden. Obwohl vor der Prophezeiung des Polymestor das Schicksal längst feststeht, wirkt die Ankündigung hier in diesem Zusammenhang, als die eigentliche Handlung der Tragödie längst abgeschlossen ist, wie eine Bestrafung - für eine Frau, die ihr Schicksal nicht erduldete und selbst Rache übte, und für Agamemnon, ihren Mitwisser.

Hekabe erscheint als männlich - weibliche Verknüpfung in einer Person. Zu starken Emotionen in der Lage, jammert und klagt sie, ohne anfangs aktiv zu handeln. Vermutlich hätte sie auch keinerlei Aufbegehren gezeigt, wäre es nicht soweit gekommen, daß ihr nach der Freiheit erst die Tochter und dann auch noch den Sohn genommen worden wäre. Schon beim Aufbegehren gegen die Opferung der Tochter zeigt Hekabe Züge, die im 5. Jh. eher einem Mann zugeschrieben werden: sie argumentiert und droht mit physischer Gewalt. Ein Flehen, eine eher weibliche Eigenart in der von uns behandelten Zeit, kommt ihr nicht über die Lippen.

Und als der Mörder des Sohnes auftaucht, übt sie das aus, was im 5. Jh. in jedem Falle Männern vorbehalten ist: die Rache. Allerdings ist auch sie dabei auf die Mithilfe eines Mannes angewiesen. Und sie ist wie auch Medeia eine Fremde, eine Barbarin. Allerdings argumentiert sie so geschickt mit griechischen Vorstellungen, daß selbst der entscheidende Agamemnon ihr glaubt und sie damit quasi wie einen (männlichen) griechischen Bürger behandelt.

3.2.3 Fazit: die Frau beherrscht die Bühne

Die von uns exemplarisch vorgestellten „gefährlichen Frauen" sind nicht schablonenhaft. Es gibt offenbar nicht „die Rächerin", die in einer bestimmten Lebenssituation bei Auftreten eines bestimmten Ereignisses immer wieder destruktiv wirkt. Es mag verwunderlich erscheinen, eine Antigone ebenso als „gefährliche" oder „schreckliche Frau" zu bezeichnen wie eine Klytaimestra. Es geht hier jedoch weniger um die Frage, aus welchen Motiven heraus Frauen handeln. Es geht um Frauen, die in gesellschaftliche Zusammenhänge eingreifen und dabei Männer zerstören.

Die beschriebenen Frauen sind äußerst verschiedenartigen Situationen ausgesetzt, und auch ihre Stellung ist eine unterschiedliche: es sind verheiratete Frauen ebenso wie Jungfrauen, Griechinnen ebenso wie Fremde, Herrscherinnen ebenso wie Beherrschte.

Allen Frauen wird in der Tragödie umfassend Gelegenheit gegeben, ihre Nöte darzustellen, der Schilderung der Lebenssituation von Frauen wird sehr viel Raum gegeben. Es werden Entwicklungen dargestellt und dabei wird deutlich, daß keine der Frauen die geborene Rächerin oder Gefahrenquelle ist. Alle „gefährlichen Frauen" befinden sich anfangs in einer passiven Rolle, und erst langsam entwickeln sie Aktivität, die dann in der einen oder anderen Form zum Ausdruck kommt.

Niemals handeln sie im Affekt. Immer ist das Handeln geplant und gut durchdacht. Selbst Antigone, vom Pflichtgefühl getrieben, läuft nicht sofort zum toten Bruder, sondern versucht, die Bestattung dann durchzuführen, wenn die Wächter es nicht sehen. Allerdings fehlt bei Antigone die Dimension , die bei den anderen Frauen den Anteil an Gefährlichkeit noch steigert: eine gewisse List, gepaart mit Verstellung, um die gewünschte Tat zu vollbringen.

Alle Frauen handeln aus eigenem Antrieb, sind nicht von irgendjemandem beauftragt. Zwar nehmen der Chor oder andere Beteiligte, wie Ismene, Stellung und raten zu oder ab. Die eigentliche Idee kommt stets von den Frauen selbst, wenn auch das Ergebnis der Tat ihnen nie einen direkten Vorteil bringt. Sie können für sich als Frau durch die Tat ihre Stellung nicht verbessern.

Dadurch, daß der Entschluß zum Handeln und zu der Form des Handelns langsam gereift ist, können alle Frauen ihr Handeln begründen. Jede Tragödie weist lange Passagen auf, in denen den Frauen Raum gegeben wird, ihr Handeln zu erläutern: und sie tun es, meist sachlich und vernunftbedacht, eher wie Männer - denn Frauen beherrschten zumindest in der Realität bis auf einige Ausnahmen nicht die Redekunst. Die handelnden Frauen sind allerdings mitunter Fremde und könnten also möglicherweise in ihrer anders organisierten Heimat die Redekunst (und vielleicht noch manches andere) gelernt haben.

Bei der Begründung der Handlungen ist festzustellen, daß sich alle Frauen im Recht fühlen. Keine handelt aus niederen Motiven: Klytaimestra begründet den Mord mit der Opferung der Tochter, Antigone ihr Handeln mit göttlichem Gesetz und Hekabe das ihre mit dem Gastrecht. Sie begründen diese Taten nicht nur gegenüber sich selbst, sondern meist noch gegenüber Außenstehenden, die oftmals eine andere Meinung haben, jedoch entweder sofort oder im weiteren Verlauf die Argumente der Frauen als die richtigen anerkennen müssen (so zumindest bei Antigone und Hekabe). Eine Besonderheit dürfte Medeia darstellen. Auch sie begründet ihr Handeln; und zwar mit dem, was sie für Jason getan hat. Aber ihre Begründung wird nie auf andere Menschen oder die Götter bezogen. Sie handelt aus Rache - nur für sich selbst (bzw. gegen Jason!).

Die von uns dargestellten Hauptfiguren handeln eigentlich männlich - stellen also maskuline Charaktere dar. Sie setzen sich über die für Frauen einengenden Verhaltensnormen, wie sie das 5. Jh. kannte, hinweg. Daß solche weiblichen Verhaltensweisen eigentlich erwartet werden, auch wenn die Tragödie nicht in Athen spielt (was die meisten Tragödien nicht tun), wird an den bereits dargelegten Äußerungen der auftretenden Männer und auch an den „hilflosen Frauen" und „aktiven Opfern" deutlich. Den Part der „hilflosen Frauen" mit den Kennzeichen Sittsamkeit und Fügsamkeit übernehmen z.B. Ismene in der Antigone und Chrysothemis, die Schwester Elektras, in den Stücken um das Haus des Agamemnon, Deianeira in den Trachinierinnen und Tekmessa im Aias. Außerdem passen die Frauenchöre in dieses Muster. Die „schrecklichen Frauen" hingegen besitzen Aktivität, Intelligenz, List, Mut und Kampfbereitschaft - im 5. Jh. alles Attribute, die nur einem Mann zugeschrieben wurden. Fraueneigenschaften, die z.B. Aristoteles harsch ablehnte. Er hielt es für unangemessen, Frauen als männlich und energisch darzustellen.

Die Aktivität der Frauen in der Tragödie findet aber in den allermeisten Fällen eine Einschränkung dahingehend, daß Männer im Hintergrund wirken. Entweder die Frauen handeln als Stellvertreter, weil kein Mann zur Verfügung steht, oder aber sie handeln mit männlicher Hilfe. Teilweise geht dieses Stellvertreterhandeln darin über, daß sehr aktive Frauen nach ihrer Tat wieder zurücktreten und einem Mann das Feld überlassen. Und das tut z.B. eine Klytaimestra, die gerade eigenständig zwei Menschen umgebracht hat - für einen Aigisthos, der selbst zu mutlos war, die Morde auszuführen.

Diese Mentalität des Aigisthos läßt sich in den Tragödien gehäuft feststellen. Männer sind entscheidungsunfreudig (z.B. Agamemnon in der Hekabe), oder repräsentieren mehr Kraft und Willkür als Intelligenz (z.B. Kreon in der Antigone).

„...die Parade der Heroinen, die, in der Unbedingtheit ihrer Aktionen, den Männern nicht nur Paroli boten, sondern sie zu ihren Nachgeordneten machten: Jason: ein Schwächling vor Medea; Admet: ein Jammerlappen, der Alkestis für sich sterben läßt..."

Die aktiven Heldinnen vollführen zwar alle entschlossen ihre Tat, und bereuen diese auch nicht, aber für alle ist die Tat mit Konsequenzen verbunden. Die Frauen strafen, werden aber nach ihrer Tat selbst gestraft. Sie dürfen zwar männlich agieren, aber dürfen dies nie ohne Konsequenz. Ein „männliches" Handeln bleibt für die Frauen also nie ohne Folgen: Klytaimestra wird getötet werden, Hekabe in einen Hund verwandelt, Antigone wird eingemauert und Medeia muß ohne ihre Kinder und damit unglücklich leben.

 

„...the consequences of such action are also self-destructive..."

Aber die Frauen zerstören nicht in erster Linie sich selbst. Wollen, Wirken und Kernhandlung der Tragödie mit „schrecklichen Frauen" läuft immer darauf hinaus, daß ein Mann bzw. dessen gesellschaftliche Stellung zerstört wird. Klytaimestra bringt Agamemnon um. Hekabe, Antigone und Medeia dagegen lassen den Mann am Leben, rauben ihm jedoch seine gesellschaftliche Position und Anerkennung, indem sie die Kinder töten, oder aber diese sich als Resultat der Handlung umbringen (Haimon in der Antigone).

Frauen werden also nicht nur männlich dargestellt und damit ihrem Frausein partiell entrückt, sie dringen mit ihrem Handeln auch in den Polisbereich ein, bringen bestimmte Dinge zur Sprache und machen damit die enge Verbindung Oikos - Polis deutlich. Sie tun dies ohne jemals ihren Willen, Frau zu sein, aufzugeben (Antigone bedauert Ehe- und Kinderlosigkeit, Medeia zerstört sich selbst durch den Tod ihrer Kinder).

Die Handlung, die sich eigentlich im Oikos abspielt, wird damit in jedem Falle zur Polis-Sache: Der Mann als Polis-Bürger verliert über seine Familie auch seine gesellschaftliche Anerkennung als Bürger. Eine starke Verknüpfung des Oikos-Polis-Bereiches und vor allem ein Zeichen der Macht, die die Frau aus dem Oikos (wenn auch hier stets in Extremsituationen) auf die Stellung des Mannes in der Gesellschaft ausüben kann.

Die Tatsache, daß nahezu sämtliche Tragödien in Königreichen spielen, tut dieser Aussage keinen Abbruch, denn die Parallelen zur demokratischen Polis sind offensichtlich. Auch wenn die Königreiche das politische System Athens aus dem direkten Blickfeld nehmen: die Ansprüche an weibliches Verhalten entsprechen denen Athens. Oftmals spielen Volksversammlungen oder Heeresversammlungen eine gewichtige Rolle und die Situation der betroffenen Männer wird so hoffnungslos dargestellt, wie sie auch in der Polis Athen bei Ledigkeit ohne Kinder wäre. Die Tragödie abstrahiert, ohne die Demokratie völlig zu verlassen. Neben direkter „Heimkehr", die selten ist (Medeia z.B. flieht nach Athen) und Anspielungen auf bestehende Elemente (so die 458 aufgeführte Orestie sicherlich auf den 461 entmachteten Areopag), werden oftmals indirekte Bezüge hergestellt.

Es finden Diskussionen über die Dominanz bestimmter politischer Elemente, die mit dem Handeln der Frauen in Verbindung stehen, statt (so z.B. in der Antigone über das Gewicht göttlicher Gesetze im Verhältnis zu menschlich gegebenen). Es laufen Entscheidungsfindungsprozesse ab. Die Protagonistin steht dabei mit ihrem Handeln oftmals nicht allein. Ihre Tat - nicht frauentypisch - wird oftmals angespornt oder aber, sogar von Männern (Teiresias in der Antigone), gutgeheißen. Die Gesellschaftsregeln, gegen die sie verstoßen, werden also nicht als allgemeingültig angesehen. Es finden innerhalb der Tragödie Denk-, Diskussions- und Wandlungsprozesse statt. Prozesse also, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen sollen.

3.3 Ergebnis: die Diskrepanz zwischen Realität und Tragödie

Die unter den Abschnitten 3.1 und 3.2 getroffenen Aussagen führen zur Feststellung der Diskrepanz zwischen der Art der Thematisierung der Frau in der attischen Tragödie und der Frauenrealität des 5. Jh.

Man kann diese Aussage noch verallgemeinern und damit radikalisieren: Nicht nur die Art, sondern die Thematisierung als solche baut eine Diskrepanz zur Realität der Frauen aller für die klassische Gegenwart in einer Traditionslinie wahrgenommenen griechischen Gesellschaften auf.

 

„Whatever their approach to tragic drama, scholars agree that the contrast between the dominant role of women in tragedy and their invisibility in social life is a paradox."

 

Die Rolle, die für die real existierende Frau akzeptiert war, beschränkte sie auf den Oikos.

 

Dort hatte sie ihr gesamtes Betätigungsfeld. Nur über die ihr zugeschriebene Hauptaufgabe des Hervorbringens von Nachkommen hatte sie Bedeutung auch für die Polis. Diese für die Gesellschaft große Wichtigkeit der Frau, bedingte jedoch nicht, daß sie selbst auch im öffentlichen Raum auftrat.

Das öffentliche Erscheinen und oftmals noch aktive Handeln der Frau in der Tragödie widerspricht den Erwartungshaltungen einer Frau in der Realität des 5. Jh. Eine solche sollte sittsam und fügsam sein und möglichst nicht auffallen. Solche Frauen gibt es auch in der Tragödie, aber in geringer Zahl. Daß selbst diese auf der Bühne - in der Öffentlichkeit - ihre Wünsche, Sorgen und Probleme zur Sprache bringen können, scheint bemerkenswert.

Erstaunlicher ist jedoch die von vielen tragischen Frauen in der Öffentlichkeit begangene Tat. Sie rückt die Frau nicht nur aus dem Oikos heraus - denn die Folgen der Handlungen betreffen stets die Polis - , sondern lassen sie in einer Art und Weise tätig werden, die nur von einem Mann zu erwarten war.

 

In der Tragödie (selbst eine Polis-Institution) wirkt die Frau somit oft genug mit öffentlicher Tat - in der Polis.

 

Die hermeneutische Frage nach dem „Warum" führt uns in den 4. Abschnitt, auf die zweite Ebene der Fragestellung.

Zum nächsten Kapitel!


©verfaßt von Christine und Andreas Schinzel -Germany (Berlin)- und zuletzt verändert am 6.Februar 1998

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