An den Anfang und das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit!

1 Einleitung

Am Anfang steht das Staunen.

Nähert man sich dem Werk der attischen Tragiker des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, fällt einem schon bei der „Außenansicht", beim Durchsehen der Auflistungen der Stücke, die Vielzahl der titelgebenden Frauengestalten auf.

Durch diesen Fakt zum Lesen angeregt stellt man dann fest, daß diese Frauenfiguren keinesfalls zufällig namensgebend sind, sondern tatsächlich im Zentrum der jeweiligen Handlung stehen; und das häufig auch noch in aktiver Rolle.

Das ist bemerkenswert und muß einen Grund haben.

 

„Bemerkenswert" ist die quantitative wie qualitative Betonung weiblicher Figuren auf der Bühne, weil einerseits die Erwartung, im Theater gesellschaftliche Realität abgebildet zu sehen, naheliegt, und sich andererseits die soziale Stellung der Frau im klassischen Athen auf den ersten Blick gerade nicht durch öffentliche Aktivität auszeichnet.

So ist es beispielsweise zweifelhaft, ob je eine Frau im Theater anwesend war, wenn diese dominanten Geschlechtsgenossinnen (deren Darsteller ausschließlich Männer waren), die Bühne beherrschten.

Die Unterstellung eines „Grundes" für diese scheinbare oder tatsächliche Diskrepanz deutet unsere These an:

Wir gehen davon aus, daß die Thematisierung von Frauen in der Tragödie eine Funktion hatte, die von den beteiligten Akteuren auch gesehen und gezielt angestrebt wurde:

Die politisch-gesellschaftliche Institution Tragödie wollte über diese Thematisierung der Frau eine Warnung aussprechen und ein neues Handlungsmodell aufzeigen.

Diese Warnung und ihre Implikationen zu verstehen oder ihnen wenigstens „auf die Spur" zu kommen, ist das tiefergehende Interesse, dem die vorliegende Arbeit entspringt und das unter 4. weiter ausgebreitet werden wird. Dies ist aber schon eine zweite Ebene der Fragestellung.

 

Grundlage hierfür soll die Analyse der zwei Säulen unserer These, „Tragödie" und „Frau", sein, die Betrachtung der gesellschaftlichen „Szene", in die beide eingebettet sind. Unsere Fragen der „ersten Ebene" lauten daher:

- Welche politische Bedeutung hat die attische Tragödie?

und

- Wie realitätsnah ist ihre Frauendarstellung?

Der Erläuterung dieser Aspekte widmen sich die Abschnitte 2. und 3.

Unter 2. „Politik und Tragödie" werden wir im folgenden zu zeigen versuchen, unter welchen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und auf welchem formalen bzw. institutionellen Weg das in Frage stehende Frauenbild transportiert wurde. Daraus wird sich die eminent politische Dimension der jeweiligen Aufführungssituation ergeben. Tragödie verstehen wir aus den darzulegenden Gründen als politisch-gesellschaftliche Institution. Nur als solche hatte sie große Öffentlichkeit und Bedeutung - und damit auch das Bild, das dort von der Frau gezeichnet wurde.

In Abschnitt 3. „Haus und Bühne" soll die angedeutete Spannung zwischen der Stellung der Frau in der zeitgenössischen Gesellschaft und dem Frauenbild der Tragödie deutlich werden. Wir haben uns bei der Darstellung der Realität der Frau bewußt nicht nur auf die athenische Frau des 5. Jh. v.Chr. beschränkt, sondern sowohl die davor liegende Zeit als auch andere Gesellschaften berücksichtigt, um deutlich hervorzuheben, daß die gesellschaftliche Rolle der Frau auf Vorläufer zurückschaute, die das Denken und die Vorstellung geprägt hatten. Auch Frauenbilder anderer Gesellschaften dürften auf das keinesfalls abgeriegelte Athen nicht ohne Einfluß gewesen sein.

Die anschließende Betrachtung ausgewählter tragischer Frauenfiguren wird nicht zu einer philologischen Textanalyse geraten, sondern soll beispielhaft bestimmte, auf die Bühne gebrachte Haltungen der dargestellten Charaktere aufzeigen.

Der politische Gehalt der Tragödie soll dann in unseren Schlußbetrachtungen unter 4., verknüpft mit dem Untersuchungsgegenstand „Frau", in seiner Zielrichtung konkretisiert werden. Wir versuchen zu zeigen, daß die Frau der Institution Tragödie ein Mittel zur Formulierung einer Warnung war. Diese Warnung hatte verschiedene Ebenen von steigender Abstraktheit:

Man problematisierte die Mißachtung der Frau, die Mißachtung der weiblichen Sphäre des Oikos (oder Haushaltes), die Mißachtung der alten Werte wie Achtung und Gleichheit, die diese traditionelle Sphäre symbolisierte, und wohl auch die Vernachlässigung des geistigen (oder politischen) Potentials von etwa 85 % der Bevölkerung, die keinerlei politische Rechte hatten.

In ihrer Eigenschaft als Gegenstand dieser Warnung kann man die Frau auch als einen der Zielpunkte von Tragödie sehen.

Sie wäre der Tragödie also Mittel und Zweck gewesen.

Wir schließen daran einige Reflexionen über die Hörbarkeit und die Bereitschaft zum Hören solcher Warnungen an.

Das Glossar des Punktes 5. versucht, die Bedeutung einzelner Begriffe, deren Erläuterung im Text vielleicht zu kurz kommt, auf einen Punkt zu bringen.

Die Karten unter 6. wollen den kleinen Ausschnitt der Welt, der sich einmal als einzig ernstzunehmenden Teil derselben verstand, vor dem Auge des Lesers ein wenig lebendiger werden lassen.

In Abschnitt 7. findet sich eine tabellarische Aufstellung aller in den Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides auftauchenden Frauenfiguren, damit der Leser unsere Aussagen zu nur am Rande behandelten Dramen besser nachvollziehen kann.

Durch die Arbeit zieht sich ein Strang, in dem wir uns mit Platon und Aristoteles befassen. Diese beiden gelten der Moderne (neben der Demokratie und der Akropolis) als das wesentliche Erbe der griechischen Klassik, haben sich jeweils sowohl mit der Stellung der Frau als auch mit der Bedeutung des Theaters beschäftigt und haben ihre Positionen als einflußreiche Persönlichkeiten auch in die Öffentlichkeit bringen können. Sie tragen zur Abrundung unserer Schlußbetrachtungen bei, da gerade die Reaktion der großen Denker auf die von der Tragödie ausgesprochene Warnung von besonderem Interesse ist.

 

Wir befassen uns mit der „attischen Tragödie" und meinen unausgesprochen deren Ausprägung während des 5. Jh. des klassischen Athen. Hier hatte sie ihre Hochphase, hier wirkten die größten Dichter, hier war der kulturelle Nabel der griechischen Welt (weshalb der Begriff der „attischen" dem der „griechischen" Tragödie vorzuziehen ist), hier bietet sich aber auch aufgrund der einzigartigen politischen Situation der ersten Demokratiewerdung der Einstieg zu einer politologischen Arbeit an.

Gerade dieses 5. Jh. v.Chr. weist eine Brisanz und Faszination auf, die ihresgleichen sucht. Die Polis Athen, ursprünglich ein Stadtgebilde unter vielen, wurde binnen eines Jahrhunderts von einem eher mittelmäßigen Städtchen zu der Seemacht, die das Mittelmeer beherrschte, um am Ende des Jahrhunderts alles zu verlieren. Athen wurde durch seine hohe Stellung zum Kernpunkt von Wissenschaft, Kultur und Philosophie. Hier wirkten die Sophisten, hier lebte und diskutierte Sokrates und beeinflußte u.a. Platon. Die innenpolitischen Wandlungen, die im Athen des 5. Jh. abliefen, waren ebenso atemberaubend und brachten, noch ehe man wieder Atem geholt hatte, die erste Demokratie hervor - die erste Volksherrschaft, mit der sich politische Denker, von den Sophisten bis zu heutigen Philosophen und Politologen, beschäftigen, und die ungeheure Kräfte freisetzte. Es wurden damit im 5. Jh. politische und geistige Wege beschritten, die in ihrem Ablauf einzigartig und, vor allem was die politischen Entwicklungen hin zur Demokratie betrifft, erstmalig waren.

 

„Die Griechen (hatten) keine Griechen vor sich."

Ihrerseits aber „...bildeten sie das Nadelöhr, durch das die Weltgeschichte hindurch mußte, wenn sie zum modernen Europa gelangen sollte" .

Unser generelles Interesse am griechischen Altertum entspringt in diesem Sinne also der Erkenntnis, daß unsere politische Gegenwart letztlich nicht ohne ihre, im klassischen Athen wurzelnde, Traditionslinie zu verstehen ist.

Umso interessanter ist es, daß es neben all den neu beschrittenen Wegen Sackgassen zu geben scheint, die oft außerhalb der Betrachtung blieben. Die Sklavenfrage blieb in der Zeit selbst bei Philosophen wie Platon oder Aristoteles weitgehend unreflektiert. Und auch die Frauen sind so eine Sackgasse. Sie gelangten trotz aller Entwicklungen des 5. Jh. und auch im 4. Jh. nie zu politischer Mitbestimmung. Eine Gesellschaft stützte sich also in der Entscheidungsfindung auf nur ein Sechstel der Bevölkerung (nämlich die männlichen Vollbürger) und sparte das Potential der Restgesellschaft völlig aus. Die Tatsache, daß man sich im Theater gerade einer solchen Restgruppe bediente, macht die Frau für uns spannend, deren Beteiligung man in der Öffentlichkeit scheinbar nicht für nötig hielt und die man jedoch gerade in dieser Öffentlichkeit auf die Bühne brachte.

Nicht behandeln werden wir die, weiter unten kurz zu erläuternde, gänzlich anders geartete Gattung der Komödie. Sie ist mit Vorsicht zu genießen, wenn man Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Realität oder auch nur konkrete Standpunkte aus ihr herzuleiten versucht, weshalb sie in der vorliegenden Arbeit auch nur in Form von Fußnotenverweisen auftaucht. Thema ist die „attische Tragödie", nicht das „attische Theater" als umfassenderer Begriff.

 

Die griechische Klassik wirft ihre Schatten bis heute. Platon und Aristoteles werden diskutiert, und attische Tragödien werden aufgeführt und zur heutigen Zeit in Beziehung gesetzt. Wir wollen uns aber in unserer Arbeit von diesen Schatten entfernen und wollen hin zum antiken Ursprungsgegenstand. Wir wollen keine Untersuchung der Tragödie aus der Sicht der heutigen Zeit. Wir möchten die Gesellschaft des 5. Jh. in ihrer Zeit untersuchen, weshalb wir auch z.B. moderne Feminismustheorie außen vor lassen. Wir unternehmen einen intentionellen Erklärungsversuch. Wir versuchen, das Verhältnis der Tragödie zur Frau im historisch-gesellschaftlichen Kontext der Zeit zu verstehen.

 

Die Sekundärliteratur zum griechischen Altertum ist vielfältig. Allerdings ist die Bedeutung der Thematisierung der Frau im Theater kaum untersucht. Sowohl ältere als auch neuere Darstellungen sind historiographisch ausgerichtet und weitgehend beschreibend. In den letzten Jahren kommen zunehmend auch eher psychologische oder die Frau von ihrer gesellschaftlichen Situation isolierende Betrachtungen hinzu. Soweit die Tragödie tendenziell politologisch betrachtet wird (wie etwa bei Christian Meier), bleibt die Bedeutung der dort auf die Bühne gebrachten weiblichen Charaktere außen vor.

Wir möchten uns nicht auf ein Beschreiben beschränken. Wir möchten vielmehr die politische Funktion nicht nur der Tragödie, sondern besonders der dortigen Thematisierung der Frau in der Zeit und für die Zeit des 5. Jh. untersuchen.

 

Unter dem Primärquellenaspekt ist unsere Literaturliste sehr begrenzt. Das ist auf den Brand der Bibliothek von Alexandria 47 v.Chr. zurückzuführen, der wohl der Grund dafür ist, daß uns das klassische Griechenland, auf das wir unsere Kulturtradition seit 500 Jahren zu beziehen gewohnt sind, oft doch ferner scheint, als in Jahren auszudrücken ist.

Einzelne Sätze, Gedanken, Haltungen der erhaltenen Quellen lassen dann aber doch immer wieder eine tiefe Verbundenheit und Verwandtschaft erleben.

 

Möge sich der Leser dieser Arbeit, sei er erfreut oder enttäuscht worden, zur (erneuten) Lektüre der Klassiker anregen lassen - vielleicht unter einem neuen Gesichtspunkt.

Zum nächsten Kapitel!


©verfaßt von Christine und Andreas Schinzel -Germany (Berlin)- und zuletzt verändert am 6.Februar 1998

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