An den Anfang und das Inhaltsverzeichnis dieser Arbeit!

2 Politik und Tragödie - Rahmenbedingungen für tragische Frauen

Auf dem Weg zum Verstehen der eigentlich politischen Dimension des Phänomens der Thematisierung der Frau, bzw. der inhaltlichen Tendenz dieser Thematisierung, werden wir nun als Vorbereitung darzustellen haben, vor welchem Hintergrund, in welchem Rahmen es sich zuträgt.

Die historisch-gesellschaftliche Einordnung wird ein Bewußtsein für die politische Brisanz des gesamten Jahrhunderts zu schaffen versuchen, während die Darstellung des theoretischen wie auch organisatorischen Rahmens des Theaters darauf abzielt, Tragödie als konkrete politisch-gesellschaftliche Institution in einer allgemein politischen Zeit zu erweisen.

2.1 Politik - der athenische Sonderweg

Außenpolitisch ist das 5. Jh. für Athen das Zeitalter des rasanten Aufstiegs und Falls.

Es ist bestimmt durch die Auseinandersetzung einerseits mit den Persern, andererseits mit Sparta.

Die innenpolitisch-gesellschaftlichen Wandlungen sind auf das Engste mit diesen außenpolitischen Ereignissen verknüpft und nicht minder radikal und atemberaubend.

Diese Verknüpfung, das Sich-Einander-Bedingen der beiden Bereiche, ist Grund für die im wesentlichen chronologische und nicht in zwei Blöcke getrennte Darstellung.

2.1.1 Bedrohung und Aufstieg

Ab Ende des 7. und bis in das 6. Jh. hinein hatte sich im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen im kleinasiatischen Raum eine umfassende Machtkonzentration unter dem Perserkönig Kyros vollzogen. Als Kyros 529 starb, war ein riesiges Herrschaftsgebiet abgesteckt, das einen Raum von der kleinasiatischen zur syrischen Küste, Armenien und das iranische Hochland umfaßte und bis zum Indus und nach Ägypten reichte. Im Rahmen ihrer umfassenden Siegeszüge war es den Persern auch gelungen, die Griechenstädte an der Küste Kleinasiens zu unterwerfen. Sie hatten ebenfalls Thrakien und Gebiete an der Meerenge zum Schwarzen Meer eingenommen. Somit standen die für die griechischen Mutterstädte lebensnotwendigen Getreideüberschüsse und Erzvorräte ihrer dortigen Kolonien unter persischer Kontrolle. Die Ohnmachtsrolle, die den Griechen ob dieser Machtexpansion vermittelt worden war, hatte etwa dazu geführt, daß im Jahre 507 die Athener den Persern ein Bündnis anboten und um ein Haar auch die Unterwerfung vollzogen hätten.

Wenn man dem (von Anekdoten durchsetzten) Bericht des Herodot Glauben schenken darf, war das Verhältnis zwischen Kyros und den Griechen von Anfang an getrübt. Überheblichkeit herrschte auf beiden Seiten; nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme. Kyros, verstand seine Regentschaft als „Herrschaft über das All" , und sah sich als universellen Monarchen mit Weltmachtanspruch. Demzufolge bestand die Welt für ihn aus Untertanen: gehorsamen und ungehorsamen, aber allesamt seiner Herrschaft unterstehend. Weiten Teilen der Griechen konnte dieser Allmachtanspruch nicht behagen. Ihr eigener Sinn für Autonomie und die Werte der eigenen Kultur ließ sie in den Persern sehr bald die Vertreter eines orientalischen Despotismus und des Barbarentums schlechthin sehen.

 

Einen solchen, zum autoritären Herrschaftssystem der Perser diametralen, Wert stellt etwa die Isonomie, die Gleichheit unter Gleichen, dar. Sie war begründet in der Verknüpfung von Wehrfähigkeit und der Ausübung politischer Rechte.

In Athen etwa hatte Solon zu Beginn des 6. Jh. den sozialen Sprengstoff, der anderswo zu massenhafter Auswanderung, zur abenteuerlichen Kolonisation geführt hatte, durch Verbot der sogenannten Schuldknechtschaft, einer faktischen Versklavung eigentlich freier Kleinbauern, und durch Tilgung der bestehenden Schulden weitgehend entschärft: Persönliche Freiheit war jetzt unveräußerbarer Bestandteil des Bürgerrechts. Durch diese Rechtskodifikation wurde Willkür begrenzt und Gleichheit gefördert.

Wirtschaftlich hatte Solon die Bürger in vier Schätzungsklassen eingeteilt.

Damit stärkte er das Engagement nichtadeliger Kreise in der Gesellschaft, denn die Einteilung in die Schätzungsklassen beinhaltete bestimmte politische Rechte. Das Vorrecht des ererbten Adels wurde so beseitigt. Alle, die in den Krieg zogen, hatten auch politische Mitbestimmungsmöglichkeiten. Die unterste Schätzungsklasse, die der Theten, war mangels finanzieller Möglichkeiten zur Stellung einer eigenen Hoplitenausrüstung vom Kriegsdienst befreit.

Der Hoplit war der schwerbewaffnete Fußsoldat, der, Seite an Seite mit oftmals verwandten oder aus der Nachbarschaft bekannten Kampfgenossen, in der Formation der Phalanx die offene Feldschlacht bestritt.

Durch sein Hoplitentum erwarb der Bürger das Recht zur politischen Teilhabe, die den Theten als Nicht-Hopliten und natürlich allen andern Nicht-Hopliten (Frauen, Kindern, Sklaven, Fremden) versagt blieb.

Neben militärtaktischen Erwägungen hatte die Phalanx den Vorteil, daß sie einen Korpsgeist verlangte und förderte, der die Gesellschaft in Friedenszeiten stabilisieren konnte, so wie der Status als in der Volksversammlung tätiger Bürger Bedingung und Ausfluß des Hoplit-Seins war.

Der Isonomie war der Weg bereitet. Solons Schätzungsklassen hatten den (besitzenden) Bürger dem Adligen angenähert. In der Regel wird er aber aufgrund der großen ökonomischen Unterschiede und der alten, teilweise fortbestehenden Abhängigkeitsstrukturen eher Gefolgsmann eines bestimmten Adligen, als ein unabhängig entscheidender Rechtsbürger gewesen sein. Neben diesem informellen Einfluß des Adels bestand über den die Regierung kontrollierenden Adelsrat Areopag auch ein institutioneller.

Nach dem (selbstgewählten) Tyrannen-Intermezzo des Peisistratos hatte Athen dann zum Ende des 6. Jh. die Reformen des Kleisthenes erlebt, die eben diesen alten Strukturen neue an die Seite gestellt und somit deren Einfluß beschnitten hatten. Kleisthenes’ Phylenreform bewirkte auf ungewöhnliche Weise eine Durchmischung der Bürgerschaft: Die 139 Demen, kleine Siedlungseinheiten der Region Attika, waren solcherart zu zehn Phylen oder Stämmen gleichsam zusammengewürfelt worden, daß jede Phyle aus einer etwa gleich großen Anzahl an Stadt-, Küsten- und Binnenlandbewohnern gebildet wurde, die sich untereinander meist nicht gekannt hatten, so daß sich der gesamte attische Demos in jeder der zehn Phylen spiegelte.

Diese Phylen hatten einerseits bestimmte Selbstverwaltungskompetenzen und „speisten" andererseits den die Volksversammlungen vorbereitenden Rat der 500 zu gleichen Teilen, so daß auch hier die alten Abhängigkeiten weitgehend unwirksam geworden waren.

Es war ein weit verzweigtes Netz von Beziehungen zwischen den Bürgern geknüpft worden, das den diesbezüglichen Vorteil des Adels egalisierte. Der Areopag blieb nichtsdestotrotz formal unangetastet.

Die Motive für die Reformen des Kleisthenes sind unklar. Intendiert oder nicht, die Wirkungen blieben einschneidend:

 

„Jetzt büßte das Gefälle zwischen Adel und Nicht-Adel endgültig seine Evidenz ein. Vor allem konnte man jetzt aus der Gleichheit politische Konsequenzen ziehen. Damit war der Weg frei für die Behauptung nicht nur der Gleichheit vor dem Recht, sondern der politischen Gleichheit aller Bürger (...) Das bedeutete Isonomie."

 

Auf diese Konstellation stießen nun die Perser.

Zur Stärkung der eigenen Position innerhalb des umfassenden Perserreiches suchten sich die Satrapen des persischen Großkönigs in den besetzten griechischen Städten Vertrauensleute aus der Schicht des heimischen Adels, denen die Ausübung der Macht, aber auch die Ablieferung der Tribute oblag. Den Griechen wurden diese Werkzeuge der neuen Herren zunehmend zur Verkörperung von Fremdherrschaft und Knechtschaft. Nicht zuletzt diese Stimmung und die sich verstärkenden innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Oligarchen führten um das Jahr 500, ausgehend von Milet, zur Auflehnung gegen die Perser. Unter den kleinasiatischen Städten fanden sich Mitstreiter, und auch im griechischen Mutterland wurde um Unterstützung geworben. Allerdings erklärten sich dort nur Athen und Eretria, das eine mit 20 und das andere mit fünf Kriegsschiffen, zur Unterstützung bereit. Das persische Großreich schlug zurück. Im Jahre 494 brach dieser sogenannte ionische Aufstand endgültig zusammen. Die unterstützenden Athener und Eretrier hatten schon vorher das Weite gesucht. Milet wurde dem Erdboden gleichgemacht und die Bevölkerung deportiert.

Nachdem nun diese Widerstände beseitigt waren, wandte sich der Perserkönig - nunmehr Dareios - dem Beispiel seiner Vorgänger und seiner göttlichen Aufgabe zu: der Erringung der Herrschaft über die vier Weltgegenden. Er entschied sich für den Weg nach Europa, und dies sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil sich, durch das nicht lange zurückliegende Eingreifen Athens und Eretrias in Kleinasien, ein Anlaß dafür bot.

Die gleichzeitige Hoffnung, in Griechenland auf wenig Widerstand zu stoßen, war gut begründet: ein Großteil der oligarchischen Kreise war dort durchaus als perserfreundlich zu bezeichnen. Außerdem hatte sich am persischen Hof eine Schar griechischer Emigranten versammelt, die sich vom Großkönig die triumphale Rückkehr in die Heimat erwartete.

491 schickte das persische Großreich Gesandte nach Griechenland und forderte von allen Städten Zeichen der Unterwerfung. In Athen und Sparta war man, anders als in vielen anderen Poleis, die dem Ansinnen des übermächtigen Gegners Folge geleistet hatten, jedoch nicht geneigt, auf die persische Forderung einzugehen. Athen konnte in Anbetracht der Unterstützung des ionischen Aufstandes nicht mit Milde rechnen, und Sparta konnte davon ausgehen, daß, was auch immer die Perser fordern oder zugestehen mochten, die Anerkennung der spartanischen Oberhoheit über den Peloponnesischen Bund nicht dazu gehören würde. Sowohl in Athen als auch in Sparta wurden die persischen Sendboten getötet.

Daraufhin setzte Persien 490 ein gewaltiges Militärunternehmen in Gang. So sollen etwa 600 Kriegsschiffe, dazu Transportschiffe für 800 Reiter mit 1 200 Pferden sowie ca. 25 000 Soldaten, insgesamt ungefähr 90 000 Menschen auf den Weg nach Griechenland gebracht worden sein. Für griechische Militärverhältnisse nahezu unvorstellbare Ausmaße. Im Visier des persischen Zorns lagen Athen und Eretria. Eretria wurde nach mehrtägigem Kampf eingenommen und zerstört, die Bevölkerung verschleppt. Daraufhin landeten die persischen Schiffe einige Tage später in Marathon, um von dort aus Athen zu erobern. In Athen wurde der Beschluß gefaßt, die Stadt zu verlassen und dem Gegner entgegenzurücken.

Unterstützt wurden die Athener durch Plataiai. Auch die Spartaner hatten ihre Mitwirkung zugesagt, waren jedoch durch sakrale Bedenken genötigt, eine halbe Mondphase bis zum Ausmarsch zu warten. Auch wenn die Perser den Griechen aufgrund ihrer Ausrüstung (Lederkleidung, Turban) unterlegen waren, barg die Überzahl eine für die Griechen nahezu hoffnungslose Situation in sich. Offensichtlich war es jedoch der Mut der Verzweiflung, der dazu führte, daß die Athener den persischen Angriff nicht abwarteten sondern sich dem Feind entgegenwarfen.

 

„Die Athener waren die ersten unter allen hellenischen Stämmen, soweit wir wissen, die den Feind im Laufschritt angriffen."

Entgegen allen Erwartungen gelang es den Athenern, die Perser, die durch den schnellen Angriff der Wirkungen ihres Hauptwaffentyps Pfeil und Bogen beraubt waren, zu schlagen. Die Perser flohen auf ihre Schiffe. Bei der Schlacht kamen 6 400 Perser und 192 Athener ums Leben.

- Ein wichtiger Sieg, doch nur eine Atempause. Marathon hatte das bestehende Ungleichgewicht der Kräfte nicht verändert.

Nicht ohne Grund gaben sich die Athener zwar der Siegesfreude hin; noch jahrelang galten die Marathon-Kämpfer als Verkörperung besten Athenertums: tapfer, rechtschaffen, genügsam. Doch während man zeitweise in Euphorie vielleicht schon die Angst, den Truppen des östlichen Weltreiches unterlegen zu sein, ablegte, wurde das griechische Mutterland für den persischen Hof zur wichtigsten Aufgabe. Der verletzte Stolz des persischen Königs setzte ein Großrüstungsprojekt nie gekannten Ausmaßes in Gang, von dem „Asien erdröhnte".

Wohl innenpolitischer Probleme wegen wurde das persische Großreich allerdings nicht sofort aktiv. Es vergingen mehrere Jahre, und erst nach dem Tod von Dareios im Jahre 486 begann sein Sohn und Nachfolger Xerxes mit der Planung des erneuten Rachefeldzuges. Die Bauvorhaben, die dafür in Gang gesetzt wurden, waren von unglaublicher Dimension. Um nicht wieder nur auf den Seeweg angewiesen zu sein, ließ Xerxes Brücken über den Hellespont bauen und zur besseren Fortbewegung der Schiffe die Landverbindung der Athos-Halbinsel durchstechen und einen Kanal ausbauen.

Inwieweit die drohende Persergefahr auf dem Athen der 480er Jahre gelastet hat, ist schwer nachzuvollziehen. Nach einer anfänglichen Euphoriephase nach dem Sieg wird sie wohl immer präsent gewesen sein, und wenn diese Präsenz nicht zu umfassender Aktivität führte, so lag das an der Uneinigkeit innerhalb Athens bezüglich des weiteren Vorgehens.

Gegen große Widerstände gelang es dem Strategen Themistokles 483/82, den Bau einer Flotte durchzusetzen. Die Gelder für diese Flotte wurden wahrscheinlich sowohl aus den Erträgen einer Silbermine als auch aus Steueraufkommen der Vermögenden finanziert. Und gerade um die Zahlungsmoral der Letzteren nicht zu sehr sinken zu lassen, begründete man die Notwendigkeit des Flottenbaus offiziell nicht mit der Verteidigungsbereitschaft gegen die Perser (die waren erst einmal weit) sondern mit der vermeintlichen Bedrohung durch das nahegelegene, seehandelsmächtige Aigina. Was auch die eigentliche Motivation gewesen sein mag - binnen zwei Jahren wurden über 100 Kriegsschiffe gebaut, und zwar Kriegsschiffe völlig neuen Typs: sogenannte Trieren - „Dreiruderer", jeweils für 175 Mann Besatzung ausgelegt.

Dies war nicht nur militärisch sondern ganz besonders auch gesellschaftlich eine „Revolution". Aufgrund der hohen Anzahl von benötigten Ruderern wurden die Theten, die bis dahin von der Bürgerpflicht des Wehrdienstes freigestellt gewesen waren, in das Kämpfersystem miteinbezogen - ein Schritt, der weitere zugunsten der unteren Schichten schon bald zwingend folgen lassen mußte. Die sich durch die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Persern ergebenden innenpolitischen Veränderungen fußten in der mythologisch begründeten Untrennbarkeit von Waffenfähigkeit und politischen Rechten - einem Jahrhunderte alten Adelsideal. Wie erwähnt war schließlich der Kämpfer-Status ein entscheidender Bestandteil der athenischen Bürgeridentität. So gliederten sich auch die Theten in den Status des in der Volksversammlung tätigen Bürgers ein. Aufgrund ihrer Vielzahl wurden sie die Träger der politischen Ordnung. Doch auch nach Einbeziehung der Theten in die politische Mitbestimmung erreichte der Anteil der mit allen politischen Rechten ausgestatteten Vollbürger an der Gesamtbevölkerung gerade einmal 15 %.

 

Der Flottenbau war in letzter Sekunde in Gang gesetzt worden, denn 481 begann Xerxes seinen großen Krieg. In Kleinasien sammelte er seine Truppen und suchte von hier noch einmal Kontakt zu den Griechenstädten Europas, indem er sie einzeln zur Unterwerfung aufforderte. Athen und Sparta wurden bei dieser diplomatischen Aktion übergangen, der Krieg, zumindest gegen diese, war somit in jedem Falle beabsichtigt. Mit großem Widerstand der Griechenstädte war auch jetzt nicht zu rechnen. Diejenigen, die sich noch nicht den Persern unterworfen hatten, waren größtenteils isoliert, und die z.T. sogar verfeindeten Städte dachten kaum an einen militärischen Zusammenschluß.

Eine für Athen nicht zu unterschätzende Rolle spielten die Priester des Apollon in Delphi, die zuerst erneut verkündeten, ein Widerstand gegen die Perser sei zwecklos. Erst als die Gesandten um einen günstigeren Spruch flehten und damit drohten, bis an ihr Lebensende in dem Heiligtum zu verbleiben, zeigte sich das Orakel gnädig und räumte den Athenern eine Überlebenschance im „Schutz der hölzernen Mauern" ein. Ein Spruch, der nach heftigen Diskussionen in Athen dahingehend gedeutet wurde, sich auf See (in hölzernen Schiffen) zu verteidigen.

Athen, zum Kampf bereit, konnte wie auch Sparta zur Wahrung der Eigenständigkeit nur auf Widerstand setzen. Auch hier kommt der Freiheits- und Eigenständigkeitsgedanke stark zum Ausdruck. So sollen die Spartaner einem Perser gegenüber geäußert haben:

 

„(...) Du kennst die Knechtschaft; aber von der Freiheit weißt du nichts, nicht ob sie süß, noch ob sie bitter ist. Hättest du sie je gekostet, du würdest uns raten nicht bloß mit Speeren für sie zu kämpfen, sondern auch mit Äxten."

Nicht zuletzt aufgrund Spartas starker Stellung im Peloponnesischen Bund gelang es, auch andere Städte zum Widerstand zu mobilisieren. 481 schlossen sich diese zu einem Kampfbund zusammen. Alle internen Querelen sollten ersteinmal ruhen und man schwor Sparta, das den Bund führte, Gefolgschaft.

Die Dominanz Spartas im griechisch-europäischen Raum ist hier noch ganz eindeutig.

Als die Perser 480 zu Wasser und zu Land mit einer ungeheuren Übermacht anrückten, durchquerten sie erst Thessalien. Mittelgriechenland konnten sie nach der Schlacht am Thermopylen-Paß, in der sich der Spartaner Leonidas mit seinen Mannen der Übermacht zwar nicht auf Dauer erwehren, die Eroberung aber zumindest 48 Stunden verzögern konnte, einnehmen. Ein wichtiger Zeitgewinn. Denn in Athen hatte man mittlerweile beschlossen, die gesamte Stadt (Frauen, Kinder, Alte) und das Umland (ca. 100 000 Menschen) auf die Peloponnes oder nach Salamis zu evakuieren - ein für damalige Zeiten unglaubliches Unterfangen. Derweil bezogen die athenischen Hopliten am Isthmos und die athenischen Schiffe in der Meerenge bei Salamis Stellung. Xerxes fand in Athen nur wenige Menschen vor. Attika und Athen wurden ohne großen Widerstand von den Persern eingenommen und verwüstet. Bald nach dem Landheer traf auch die persische Flotte ein. Sie fuhr schlachtbereit auf, aber die Griechen ließen sich nicht aus ihrer Meerenge in das freie Wasser locken. So blieb denn dem Perserkönig wenig anderes übrig als anzugreifen, wollte er nicht tatenlos und unrühmlich verharren. Obwohl wahrscheinlich zweiteres angesichts der sowieso bestehenden Überlegenheit taktisch günstiger gewesen wäre, entschloß sich Xerxes zum Angriff.

In den Gewässern der Meerenge konnte jedoch die persische Flotte ihre Überzahl nicht zur vollen Geltung bringen. Allmählich gewannen die Griechen in den ihnen vertrauten Gefilden und mit ihren vergleichsweise wendigen Schiffen die Oberhand, so daß die Perser schließlich aufgaben und flohen. Der Großkönig war beschämt und verzichtete auf eine weitere Offensive. Statt dessen kehrte er nach Asien zurück. Der Rückzug war bereits das Eingeständnis der Niederlage. Der endgültige Sieg folgte jedoch in den Gefechten des Jahres 479, als die Griechen das persische Heer bei Plataiai und Mykale endgültig schlugen. Die Reste der persischen Truppen räumten Griechenland.

Die Sieger zogen nach Theben und zwangen die dortigen Perserfreunde zur Aufgabe. Staunen, Erleichterung und Jubel erfüllten die Hellenen nach ihrem Sieg. Feste, Gedichte, Weihgeschenke und Denkmäler verherrlichten die Taten der „Retter von Hellas" .

 

Mit der Fülle der nun geschaffenen Kunstwerke wurde deutlich, wie sehr die Auseinandersetzung mit den Persern auch zu künstlerischen Veränderungen geführt hatten - alles wurde kämpferischer und vitaler. Das fing in der Mode bei Frisuren und Kleidung, die knapper wurde und mehr Bewegung zuließ, an, ging über eine jetzt wesentlich schlichtere Ausführung der Grabmäler, deutlich lebendigere, dynamischere Statuen bis hin zur Vasenmalerei, die in der Zeit der Perserkriege ihr Gesicht völlig änderte, von der schwarz- zur rotfigurigen wurde und mehr Gestaltungsmöglichkeiten zuließ.

Allerdings wird gerade in der Vasenmalerei dieser Zeit zum erstenmal eine Entwicklung offenbar, die auf einen aufkommenden Hochmut der Athener hindeutet. Auf Vasen werden die unterlegenen Perser herabwürdigend und obszön dargestellt. Eine Tendenz, die der bis dahin geltenden Gepflogenheit, Freund und Feind als Parteien gleichen Rechts und gleicher Würde anzusehen, zuwiderlief.

 

Eine besondere Rolle hatte Sparta als führender Kopf des Kampfbundes gespielt. Unter seiner Führung war das schier Unmögliche erreicht worden. Allerdings stellte sich nun das Problem, wie weiter verfahren werden sollte - insbesondere in bezug auf die in Kleinasien befindlichen Griechenstädte. Sparta stand vor dem Erfordernis, mit einer kleiner werdenden Spartaner-Menge (zu dieser Zeit ca. 8 000) eine nicht unbeträchtliche Zahl Unterdrückter, sogenannter Heloten, unter Kontrolle zu halten. In Anbetracht dieser Position war es bestrebt, die Kämpfe so schnell wie möglich zu beenden. An weiteren Kampfhandlungen in Kleinasien bestand hier kein Interesse, vielmehr sollten den weiterhin durch Persien bedrohten Griechen Siedlungsplätze im Mutterland angeboten werden. Die Betroffenen hatten mit Unterstützung Athens Aufnahme in den Kampfbund gefunden und verlangten demgegenüber die Fortsetzung der Kämpfe.

Trotzdem kam es 479 zur letzten Konferenz des Bundes, auf der Sparta verkündete, der Krieg sei beendet und die Ziele erreicht.

Das war die Stunde der Athener.

2.1.2 Glanz und Allmacht

Athen, den Abwehrkampf gegen die Perser wesentlich tragend, hatte sich als zweite Großmacht Griechenlands etabliert. Zur Fortsetzung des Kampfes und zur Sicherung der Schiffahrt in der Ägäis formierte es 478 den attisch-delischen Seebund, dessen Gründung auch als ein Affront gegen Sparta, das das Ende der Perserkriege erklärt hatte, zu verstehen ist. Das offizielle Ziel, die gemein-griechische Sache, ließ die Bundesgenossen ihre Beiträge in Form von Soldaten, Schiffen oder Geld (anfangs) bereitwillig entrichten. Sparta blieb außen vor.

Athen hatte die Chance wahrgenommen, Einfluß und auch Prestige weiter zu steigern. Es entwickelte sich zum machtpolitischen Zentrum, wurde daneben aber auch zum kulturellen Nabel der griechischen Welt. Philosophie, Kunst, pompöse Bauwerke, die immense Geldsummen verschlangen, fanden hier eine Heimstatt. Die attische Drachme wurde zur Währung des ganzen Bundes. Verstärkt dann unter Perikles wurden Spiele, Festzüge, öffentliche Speisungen eingeführt bzw. ausgebaut. Für die von ihm ins Leben gerufenen musikalischen Wettkämpfe ließ Perikles beispielsweise eigens ein Odeon errichten.

 

Zu einer Zuspitzung des athenisch-spartanischen Konflikts kam es im Jahre 462, als die Spartaner ein, mit den besten Absichten angerücktes athenisches Unterstützungscorps unter Kimon, das den in Sparta schwelenden Helotenaufstand niederzuwerfen helfen wollte, wohl aus Mißtrauen zurückwiesen. Die Folgezeit erlebte versteckte und immer häufiger auch offene militärische Auseinandersetzungen der Kontrahenten.

 

Während Kimons Abwesenheit war es Ephialtes gelungen, mit dem Adelsrat Areopag ein altes, aristokratisches (und aufgrund des quasi panhellenischen Kontaktnetzes innerhalb des Adels spartafreundliches) Element innerhalb der Polis weitgehend zu entmachten; eine bedeutsame Entscheidung, die, wie Meier es ausdrückt, „die Politisierung der Polis-Ordnung" bzw. „deren Abschluß" darstellt.

Waren vorher die Bürger schon formal zuständig für Entscheidungen, die die Polis betrafen, so wird diese Zuständigkeit doch in der Praxis eher ein ständiger, wechselseitiger Austausch mit den Positionen des Areopag, nicht selten mit Orientierung an letzterem, gewesen sein.

Jetzt waren alle Angelegenheiten der staatlich organisierten Gemeinschaft, soweit wir wissen zum ersten Mal in der Weltgeschichte, ohne Wenn und Aber in die Hände derer gelegt, die von entsprechenden Entscheidungen auch direkt betroffen waren - der Bürger.

Die Isonomie hatte sich zur Demokratie entwickelt.

Die neu begründete Volksherrschaft ruhte auf drei Säulen:

- der Volksversammlung, dem wichtigsten Gremium der Polis, die regelmäßig tagte und zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens entschied,

- dem Rat der 500, wo zu jedem Antrag für die Volksversammlung ein vorbereitender Beschluß zu fassen war, und der daneben noch exekutive und repräsentative Aufgaben innehatte, und den

- Geschworenengerichten, die je nach Prozeßgegenstand private oder öffentliche Klagen behandelten.

Staatliche Ämter wurden durch Wahl, später auch durch Los vergeben. Die alten adeligen Eliten besetzten wahrscheinlich aufgrund ihrer Sachkompetenz und ihrer Rednergabe in den ersten Jahrzehnten der Demokratie besonders viele solcher Posten.

 

446 schlossen Athen und Sparta einen formal zweiseitigen, faktisch aber alle Griechen betreffenden Vertrag, der für 30 Jahre gelten sollte: Der Peloponnesische Bund und der attische Seebund sicherten sich über ihre jeweiligen Führungsmächte die Respektierung der Grenzen zu. Die neutralen Städte sollten ihre Unabhängigkeit bewahren können, aber das Abstecken der Einflußsphären, das Festschreiben des Bündnis-Status quo war vollzogen. Griechenland war in zwei Machtbereiche geteilt, obwohl die formale Legitimation des Seebundes wohl schon 448 durch den athenisch - persischen „Kallias-Frieden" entfallen war.

Athen war innerhalb des Seebunds immer mehr von der Führungsmacht zur Allmacht mit Selbstbedienungsanspruch degeneriert. So wurden etwa die Bauvorhaben auf der Akropolis ab etwa 445 mehr oder minder schamlos aus der Seebundeskasse finanziert.

2.1.3 Krise und Niedergang

Zehn Jahre später nahm eine Entwicklung ihren Lauf, die auf das für den ganzen griechischen Raum sowohl im Hergang als auch in den Folgen einschneidende Ereignis des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta, hinauslaufen sollte:

In einer gemeinsamen Kolonie von Korinth und dessen Kolonie Kerkyra, brach im Jahre 436 ein Bürgerkrieg zwischen Aristokraten und Demokraten aus, von denen erstere sich an Kerkyra und letztere an Korinth wandten, um Unterstützung baten und diese auch gewährt bekamen.

Korinth war Mitglied des Peloponnesischen Bundes. Das neutrale Kerkyra suchte, nachdem es zwischen den beiden „Mutterstädten" 435 zu Kriegshandlungen gekommen war, um Hilfe in Athen nach.

Die Korinther argumentierten, eine athenische Zusage wäre eine Verletzung des Vertrages von 446, da es dann durch den Seebund bedroht sei. Diese Bedenken suchte Athen dadurch wenigstens formal zu entkräften, daß es Kerkyra lediglich ein Defensivbündnis anbot.

Athen hat das kerkyreische Ersuchen wohl maßgeblich auf Betreiben des Perikles angenommen. Dessen Gründe für sein Engagement sind unklar. Er mag den großen Konflikt, auf den jetzt alles hinsteuerte, für unausweichlich gehalten und nun einen günstigen Zeitpunkt dafür gesehen haben. Auch die Tatsache, daß die Seemacht Korinth ein potentieller athenischer Konkurrent war, den es zu schwächen galt, kann eine Rolle gespielt haben. Völlig unwichtig dagegen war offenbar die Systemfrage „Demokratie oder Adelsherrschaft?". Denn daß sich die Demokraten an Korinth, einen Bündner der Vorzeigearistokratie Sparta, wenden würden, und die Demokratie Athen die „Patenschaft" für die Aristokraten übernahm, ist zumindest bemerkenswert.

Wie dem auch sei; die athenische Flotte behinderte korinthische Angriffe auf Kerkyra empfindlich, achtete jedoch darauf, den Eindruck zu vermeiden, man selbst sei die offensive Kraft.

Diese Vorkommnisse ließen in Athen Furcht vor eventueller korinthischer Vergeltung aufkommen, deren Umsetzung in Poteidaia drohte: Diese korinthische Kolonie war Mitglied des attischen Seebunds und schien unter Einfluß des korinthischen Oberbeamten zum Abfall bereit. Athen forderte die Entlassung des Oberbeamten und die Schleifung der Mauern zur (für Athen interessanten) Seeseite. Die Stadt lehnte, mit dem Rückhalt korinthischer Truppen, ab, worauf Poteidaia durch athenische Hopliten eingeschlossen und belagert wurde.

Korinth und Megara wandten sich an Sparta und forderten den gemeinsamen Krieg gegen Athen. Korinth aus den genannten Gründen; die Seebundesstadt Megara wegen von Athen auferlegten, provokativen Handelsbeschränkungen.

Sparta zögerte, ließ sich aber durch Korinths Drohung, sich mit Spartas Peloponnesische Rivalen Aargaus zusammenzuschließen, überreden. Auf dem Peloponnesischen Bundeskongreß im Sommer 432 wurde Athen der Krieg erklärt. Spartas offizielles Programm war die Befreiung Griechenlands von der athenischen Tyrannin. Die Kriegserklärung war der formelle Bruch mit dem Vertrag von 446.

Für Athen sprach, daß es (der Seebundeskasse, der poliseigenen und sklavenbetriebenen Silber- und Erzminen und der landwirtschaftlichen Autarkie wegen) ungemein reich war, und daß es den strategischen Plan des Perikles besaß. Dieser sah vor, sich wenn möglich auf keine offene Hoplitenschlacht einzulassen, Attika bei einem eventuellen peloponnesischen Einfall sogar kampflos preiszugeben und die Bevölkerung hinter die athenischen Mauern zu evakuieren. Im Gegenzug wollte man die eigene unbedingte Überlegenheit zur See ausnutzen und die Peloponnes ständig angreifen oder bedrohen. Diese Zermürbung bei gleichzeitiger Uneffektivität der eigenen Offensivbemühungen längerfristig auszuhalten, traute man dem Gegner nicht zu.

Wie lange Perikles den Spartanern durchzuhalten zugetraut hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls lief der Krieg von 431 an zehn Jahre nach dem beschriebenen Muster ab. Der „archidamische" Krieg begann im Sommer 431 mit seiner ersten „Saison". Attika wurde verwüstet, es kam zu keiner Schlacht, die Einwohner waren evakuiert und im Herbst, zur Erntezeit, zogen die Spartaner wieder ab.

Der Vernunft-Plan des Perikles, der viel Selbstbeherrschung erforderte, wurde im Jahre 430 auf eine extreme Probe gestellt. Eine Seuche, vielfach „die Pest" genannt, machte die Lebensbedingungen im überfüllten Athen unerträglich. 430/29 und nach Abschwächungen noch einmal verstärkt im Winter 427/26 fielen ihr an die 20 000 Menschen zum Opfer.

429 starb auch Perikles. Ihm folgte, wenngleich in seiner Akzeptanz nicht vergleichbar, Kleon als der beherrschende Mann des Demos nach. Er ist, vor allem durch Thukydides, als grober, skrupelloser Opportunist überliefert. Als Beispiel hierfür und generell für die Behandlung der Seebundstädte durch Athen sei auf den Abfall von Mytilene verwiesen:

428 hatte sich Mytilene auf Lesbos vom Seebund losgesagt, war von Athen belagert worden und hatte sich schließlich wieder ergeben müssen. In der athenischen Volksversammlung war nun auf Betreiben Kleons beschlossen worden, alle Männer Mytilenes umzubringen, Frauen und Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Das Schiff mit dem Vollstreckungsbefehl war schon unterwegs, als die Volksversammlung am Tage darauf nochmals zusammentrat, um den offensichtlich unverhältnismäßigen Beschluß abzuändern. Die am Aufstand Schuldigen sollten nun zu Tode kommen, nicht mehr alle Mytilenäer. Die Vollstreckung des ursprünglichen Befehls konnte um Haaresbreite verhindert werden, doch auch nach dem neuen Urteil traf es über 1 000 Männer.

Kleons bedeutendster Gegenspieler in der Volksversammlung war der eher vorsichtige und besonnene Nikias. Wohlhabend oder reich, persönlich integer und kein Freund der lauten Töne genoß er Ansehen, ja Vertrauen, niemals aber die Popularität, die Fähigkeit zur Faszination eines Kleon. Seit 427 wurde Nikias immer wieder zum Strategen gewählt und hätte auch 425 die Verantwortung für die Aktionen um die der Peloponnes vorgelagerte Insel Sphakteiria und den gegenüberliegenden Hafen Pylos tragen sollen. Den Athenern war es gelungen, Pylos zu besetzen, woraufhin Sparta mit einem 400 Mann starken Kontingent auf Sphakteiria die Besetzer einschließen wollte. Die athenische Seeüberlegenheit führte dazu, daß die Spartaner zu Belagerten wurden und Friedensverhandlungen nicht nur für diese Schlacht, sondern für den gesamten Krieg anboten. Unter Kleons Einfluß lehnte Athen ab, und Nikias übergab die militärische Verantwortung in dieser Sache dem ihn provozierenden Kleon. Diesem gelang tatsächlich die Gefangensetzung der dann noch 292 Hopliten, von denen 120 Vollspartaner waren. Sparta war mehr denn je zum Frieden bereit, Athen war maßloser denn je.

422 fiel Kleon bei den Kämpfen um die spartanisch besetzte athenische Kolonie Amphipolis in Thrakien. Zur gleichen Stunde starb in Amphipolis auch der begnadete spartanische Feldherr Brasidas. Er als einer von sieben Spartanern, Kleon als einer von 600 Athenern! Die beiden profiliertesten Gestalten der Zeit, die „Mörserkeulen" des Krieges waren tot.

Die schwere Niederlage änderte die Grundstimmung in Athen jetzt dergestalt, daß es Nikias gelang, einen Friedensschluß durchzusetzen. Auch Sparta war dazu bereit. Einerseits besaß Athen immer noch das Faustpfand der Gefangenen von Sphakteiria, und zum anderen war Spartas Machtstellung auf der Peloponnes durch das neutrale bzw. eher feindliche Argos bedroht. Der „Nikias-Frieden" von 421 sollte für 50 Jahre gelten, wurde von jeweils 17 prominenten Bürgern beider Seiten mit einem jährlich zu erneuernden Schwur bekräftigt und änderte wenig an den Besitzständen zur Zeit vor Ausbruch des Krieges.

 

Ein Jahr später trat in Athen der Mann in Erscheinung, dessen Biographie und schillernde Persönlichkeit allein Bände füllt; ein Schüler des Sokrates, gerühmt wegen seiner anmutigen Schönheit, dem Adelsgeschlecht der Alkmeoniden entstammend, genialer Feldherr, in Diensten Athens, Spartas, Persiens, Olympiasieger, Verräter und Retter der Demokratie, Verführer des Demos und der Frauen, talentiert, machtbewußt, individualistisch, skrupellos: Alkibiades wurde Stratege.

Nicht am Eid von 421 beteiligt, betrieb er sogleich die Unterwanderung des Friedens und setzte ein 100-jähriges Bündnis mit dem Sparta-Rivalen Argos durch. Im argivisch-spartanischen Krieg von 418 waren daher auch Athener beteiligt - nicht in entscheidender Anzahl und auch unterlegen, aber allein in ihrer Anwesenheit (wie schon der Vertrag mit Argos selbst) eine erhebliche Brüskierung Spartas.

Alkibiades’ Versuch, die Ostrakisierung des Nikias durchzusetzen, scheiterte, und so waren diese beiden Männer fortan nebeneinander die beherrschenden Personen Athens.

Mitten im „Frieden", 416/415, belagerte und entvölkerte Athen die kleine und neutrale Ägäis-Insel Melos. Bemerkenswert ist hier vor allem die rein machtpolitische Argumentation der Athener, die Betonung des Rechts des Stärkeren als allein gültiges Prinzip.

415 erreichte Athen ein Hilferuf aus Segesta auf Sizilien, das sich u.a. durch die mächtige korinthische Kolonie Syrakus bedroht sah. Von einer irgendwie gearteten Notwendigkeit für ein Eingreifen konnte aus athenischer Sicht nicht die Rede sein, und dahingehend argumentierte auch Nikias. Alkibiades aber sah in dem Abenteuer (und gerade als ein solches gewann es für ihn vermutlich auch einen Teil seines Reizes) die Chance einer Machtdemonstration und der Ausdehnung des athenischen Einflusses auf die Westgriechen. Die Volksversammlung folgte ihm, zumal die Finanzierung der Aktionen von Segesta zugesichert worden war (was sich im Nachhinein allerdings als nicht haltbar erwies) und bestimmte Alkibiades, den widerwilligen Nikias und den als eher gleichmütig geltenden Lamachos als die militärischen Führer. Die „sizilische Katastrophe" lief an. Eine ungeheure Militäraktion wurde vorbereitet. Im Sommer machte sich eine Streitmacht von hunderten von Schiffen mit Zehntausenden an Besatzung, tausenden von Hopliten und Leichtbewaffneten und tausenden an Versorgungseinheiten auf den Weg nach Sizilien.

Langsam hatte Sparta die Bedeutung Siziliens und vor allem Syrakus’ erkannt und entsandte zwar noch keine Truppen, wohl aber einzelne Personen, die man als militärische Berater bezeichnen kann, als Organisatoren des sizilischen Widerstandes, in welcher Rolle diese nach anfänglichen Schwierigkeiten auch erfolgreich waren.

Nachdem sich die Athener auf Sizilien festgesetzt hatten, wegen der unterschiedlichen Zielsetzungen der Befehlshaber aber nicht vorankamen, hatten sich in der Heimat die Gegner des Alkibiades durchgesetzt: Die athenische Staatsgaleere erschien 414 vor Sizilien und sollte Alkibiades zum Prozeß nach Athen bringen. Dieser konnte sich in Unteritalien durch Flucht entziehen und bot seine Dienste in Sparta an.

Die Kämpfe um Syrakus, jetzt athenisches Angriffsobjekt, waren festgefahren, die Streitmacht hatte logistische und Motivations-Probleme, woraufhin Nikias die Bitte um Rückruf oder andernfalls erhebliche Verstärkung der Truppen an die Volksversammlung sandte. Ein Nachschub von 60 Trieren wurde bewilligt. Als auch dies nichts fruchtete und sogar das Gespenst einer Niederlage durch die Rümpfe der nun mit Wasser vollgesogenen Schiffe, durch die Mägen der schlecht versorgten Truppen und durch die Köpfe der Führer zu spuken begann, waren fast alle zum Rückzug bereit. Jetzt war es aber ausgerechnet der große Gegner der gesamten Aktion, Nikias, der sich dazu nicht entschließen konnte. Offenbar fürchtete er die Reaktion der Volksversammlung auf (sein) militärisches Versagen. Als er endlich zum Abzug überredet war, trat am 27. August 413 eine Mondfinsternis ein. Drei mal neun Tage hatte man nach religiösem Brauch nun noch zu warten. Nach diesen 27 Tagen gab es keine athenische Streitmacht auf Sizilien mehr. Der totalen Niederlage der Flotte gegen die nun aus der Peloponnes massiv unterstützten Syrakusaner folgte das Aufreiben der zu Lande flüchtenden Truppenteile, die Hinrichtung der Führer, die Versklavung der Mannschaften.

Dem sizilischen Unternehmen waren auf Seiten Athens über 200 Schiffe und mehrere zehntausend Menschen zum Opfer gefallen.

 

412 trat Alkibiades nochmals in Erscheinung. Mit engen Kontakten zu den Persern ausgestattet, war er von Sparta (wo er sich unbeliebt gemacht hatte) zu Vermittlungen mit Persien nach Ionien geschickt worden. Er aber nahm auch Kontakte zur athenischen Flotte vor Samos auf, wo er die Möglichkeit persischer Unterstützung für Athen im Falle eines politischen Wechsels hin zur Oligarchie andeutete. Dieser nach Athen durchgesickerte Anreiz genügte, die nach der sizilischen Katastrophe angeschlagene Demokratie aus dem Sattel zu werfen. Das oligarchische „System der 400" übernahm im Jahre 411 die Macht, mußte aber nach schon vier Monaten dem gemäßigteren „System der 5 000" weichen. Dieser Übergang hatte seine Gründe in der relativen außenpolitischen Erfolglosigkeit der 400 einerseits, und andererseits darin, daß sich die Flotte vor Samos als einen erheblichen Teil des Demos verstand und seine eigene Entmachtung durch die Oligarchen nicht hinnehmen wollte. Die demokratische Flotte unter Trasybulos wählte Alkibiades zum Strategen, der sich gern wieder auf den Schild heben ließ und die Überleitung der Macht in Athen an die 5 000 anordnete, ohne allerdings selbst gleich zurückzukehren. Seine Autorität und das drohende Potential der Flotte regte auch den Widerstand gegen die Oligarchen in der Stadt an. Die 400 wurden abgesetzt.

Die 5 000 kooperierten eng mit den Demokraten unter Trasybulos und 410 wurde die Demokratie wiederhergestellt.

Alkibiades kehrte (oder: traute sich) nach einer Reihe erfochtener Siege 407 nach Athen zurück, wo er begeistert aufgenommen wurde. Sein neuer Ruhm währte nicht lange: 406 wurde er nach einer ohne sein Verschulden verlorenen Schlacht abgesetzt und ging nach Thrakien.

Das Jahr 406 sah noch die für Athen siegreiche Schlacht bei den Arginusen. Ein Sturm machte jedoch die Rettung Schiffbrüchiger schwer bis unmöglich, und die Volksversammlung fällte wegen dieser Unterlassung gegen neun der zehn Strategen das Todesurteil. Der Ratsvorsitzende Sokrates konnte die Verurteilung nicht verhindern.

405 trat Alkibiades gegenüber der letzten athenischen Flotte noch einmal als Warner auf, wurde aber ignoriert. Man unterlag den durch persische Mittel unterstützten Spartanern unter Lysandros.

Lysandros zog in Richtung Athen, machte kaum Gefangene, sondern ließ Athener, denen er habhaft wurde in ihre Heimat abziehen, um die dortige angespannte Versorgungslage noch mehr zu verschärfen und lag mit seiner Flotte im November 404 vor dem Piräus. Nach kurzer Belagerung kapitulierte Athen. Kurz darauf auch Samos, die letzte athentreue Polis. Der Peloponnesische Krieg war vorbei.

 

Vor allem Theben und Korinth drangen nun auf eine harte Bestrafung der Unterlegenen etwa in Form der völligen Zerstörung der Stadt. In dieser Situation bewies Sparta panhellenische Größe. Es konnte die extremen Forderungen abwehren und wurde so quasi zum Retter Athens. Nichtsdestoweniger mußte sich Athen natürlich gewissen, durchaus schmerzhaften Auflagen unterwerfen: die langen Mauern zum Piräus (eine notwendige Voraussetzung des Perikles-Plans) waren zu schleifen, die „Flotten"-Obergrenze wurde auf zehn Trieren zuzüglich der zwei Staatsgaleeren festgesetzt, Athen wurde in den Peloponnesischen Bund eingegliedert und in der Stadt übernahm das von Sparta eingesetzte „Regime der 30" die Macht.

Das Terror-Regime der 30 konnte in einem innerathenischen Krieg von den Demokraten unter (abermals!) Trasybolos aber schon 403 gestürzt werden.

Die Demokratie wurde restauriert. Auch die materiellen Schwierigkeiten wurden relativ schnell überwunden. Aber „Athen vermochte sich nie mehr völlig von den moralischen, psychologischen und ideologischen Folgen des Zusammenbruches zu erholen."

Im Jahre 399 machte die Demokratie einem ihrer berühmtesten Bürger den Prozeß: Sokrates wurde der Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Beide Vorwürfe waren kaum zu halten, auch wenn Männer wie Alkibiades oder Kritias, der Führer der 30, zu seinen Schülern gehört hatten.

Sparta, die Polis der Krieger, war derweil mit dem Frieden überfordert. Seine Stellung war nicht stark genug, in Griechenland als Garantiemacht aufzutreten, und so entlud sich schon zehn Jahre nach Beendigung des großen Krieges der schwelende Konflikt um die hellenische Vormachtstellung im „Korinthischen Krieg" von 394 bis 387. Vornehmlich Korinth, Argos und (noch nicht genug entkräftet) Athen kämpften gegen Sparta.

Aber auch der Korinthische Krieg sah sich keinen deutlichen Gewinner abzeichnen. Die Erfolge und Rückschläge wogten hin und her, bis die einzig erhalten gebliebene faktische Macht, die Perser, sich erneut einschalteten und dem ihm nicht mehr gewachsenen, geschwächten Griechentum den Frieden diktierten. Der „Königsfrieden" von 386 war in Wirklichkeit eine Kriegsdrohung. Eine Drohung mit Einmarsch bei Nicht-Akzeptierung der eigenen Bedingungen. Und diese Bedingungen waren die formale Anerkennung des persischen Anspruchs auf die kleinasiatischen Griechenstädte und auf Zypern. Die kriegsmüden Griechen akzeptierten. Artaxerxes war in den Schoß gefallen, woran Dareios und Xerxes gescheitert waren und was Dareios II. gar nicht mehr versucht hatte.

338 schlagen die Makedonen unter Philip und Alexander die Griechen bei Chaironeia und einigen Hellas unter ihrer Herrschaft. Nur ein Jahr nach Alexanders 323 erfolgtem Tod wurde Athen von den Makedonen erobert und die fast zwei Jahrhunderte alte demokratische Tradition mit der Einrichtung einer Oligarchie abgeschnitten.

2.1.4 Fazit: Polis - die männliche Sphäre

Die demokratischen Strukturen in Athen entstanden, trotz der Einschnitte, für die die Namen Solon, Kleisthenes, Ephialtes stehen, nicht im Rahmen einer Umwälzung. Vielmehr fielen auch aufgrund der außenpolitischen Gegebenheiten mit Krieg und Expansion langsam einer immer größeren Bevölkerungsgruppe Machtbefugnisse zu. Die Veränderungen des 5. Jh. betrafen das Verhältnis zwischen den Schichten wie auch das zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit Polis, nicht jedoch Wertschätzungen und Ideale. Nicht zuletzt die Langsamkeit der Ausdehnung der Befugnisse führte dazu, daß lange bewährte Strukturen aristokratischer Machtausübung und -begründung in die neue Gesellschaftsordnung übernommen wurden, so z.B. das Prinzip der Gleichheit unter Gleichen (Isonomie), die öffentliche Zurschaustellung der Macht innerhalb des Staates und die Bewahrung eines Tugendanspruchs, der den aristokratischen Werten von Kraft, Bewährung, Mut und Ehre verbunden blieb. Wenn auch dieser Tugendanspruch im Zuge der Allmacht Athens und einer entstehenden Hochmütigkeit der Polis in der zweiten Hälfte des 5. Jh. immer mehr zurücktrat, und zunehmend der Schein mehr zählte als das Sein.

Das Ideal, dem der attische Bürger zu entsprechen hatte, war genau definiert: Er hatte Landbesitzer und Kämpfer zu sein (die Gewichtung verschob sich stetig in Richtung des Kämpferideals), er war redegewandt, klug im Rat und geübt in Sportarten. Eine Wertepluralität gab es nicht.

Das ist in gewisser Weise erstaunlich, weil man die Entwicklungen des athenischen 5. Jh. in Wechselwirkung mit der „panhellenischen Aristokratie des Geistes" , den Sophisten sehen muß, deren kultureller Einfluß eher eine relativierende Sichtweise beförderte. Die berühmtesten dieser Wanderlehrer in Philosophie und Rhetorik hielten sich wenigstens zeitweise in Athen auf - angezogen vom Reichtum, von den blühenden Künsten wie etwa der Architektur oder auch der Tragödie und vom Neuen, Anderen, das hier zu erleben war, andererseits all dieses aber auch wiederum mit bedingend, in seinen Möglichkeiten entwickelnd.

Trotzdem blieb das in Athen vorherrschende Bürgerideal an sich jedoch allen gemein. Man konnte dem einen feststehenden Ideal nur mehr oder weniger nahekommen. Über Konformitätsdruck entstand eine Art kollektive Identität im Rahmen des Erstrebens der gleichen Werte. Das Individuelle und Ausdifferenzierte wurde nicht gesucht, es ging um das Allgemeine: den Bürger. Die resultierende Identität war somit eine Bürgeridentität - in den genannten Idealen wurzelnd. Weder wirtschaftliche noch konfessionelle Gemeinsamkeiten erreichten diese Identifikationskraft. Soziologisch gesehen blieb die Polis eine auf Privateigentum, vornehmlich Landbesitz, gegründete Ansammlung kleiner, prinzipiell gleichrangiger Hausstände, Oikoi.

Dem allen gemeinsamen Ideal entsprach die allen gemeinsame äußere Einordnung. Die Unterordnungen der Polis, hier vor allem die Demen, waren relativ klein, die Zugehörigkeit und Einordnung gut überschaubar und konkret erfahrbar. Sie bildeten die wichtigste Ebene des Sich-aufeinander-Beziehens oberhalb des Hauses. Die Unterabteilungen der Bürgerschaft, gleichzeitig Kultgemeinschaften, bildeten die Basis der Zusammengehörigkeit, wo gleichzeitig die Bürgerlisten geführt wurden und halböffentliche Handlungen (z.B. Aufnahme der Neugeborenen) stattfanden. Die relative Isolierung der einzelnen Regionen Attikas schwand, beginnend mit der Phylenreform des Kleisthenes. Mittelpunkt und Ausdruck der Gleichheit aller wurde das Zentrum der Polis: die Agora. Hier wurde eine Identität zelebriert, die sich aus einer Solidarität unter den Bürgern, welche wiederum nicht ohne das regelmäßige Zusammentreffen und -arbeiten sich bis dahin fremder Männer denkbar ist, entwickelt. Nachdem die unteren Schichten bislang nur in ihren Familien und Demen aufgegangen waren, wurden sie im fortschreitenden 5. Jh. immer mehr zugleich und ganz wesentlich Polis-Bürger.

Weil die einzelnen Bürger von der Unterabteilung der Polis bis in die Volksversammlung im Rahmen der politischen Mitbestimmung gleich waren, und diese Gleichheit ihnen ihre spezifische Form von Freiheit war, bedeutete ihnen die Bürgerschaft so viel.

Die Ausübung einer öffentlichen Tätigkeit oder die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben war in erster Linie deshalb so ehrenvoll, weil sie Ausfluß dieser Gleichheit war. Man wird vermuten können, daß der Umstand der Teilhabe an einer Entscheidung oft wichtiger war, als das jeweils konkrete Ergebnis derselben. Es ging um das Teilnehmen, um das Sich verstehen als Teil einer Stadt, die man gemeinsam, miteinander bildete. Daher wurden die Gelegenheiten, in denen man sich als Bürger erlebte, stark betont. Das geschah im Rahmen der Volksversammlung, im Rat und im Zuge der Feste. Die Agora blieb dabei nicht nur Versammlungsplatz, sondern fungierte im Rahmen aller Zusammenkünfte als der Ort der Darstellung der Polis mit ihrem Bürgerideal.

 

„Es sollte deutlich sein, daß Politik, wenn sie zum Lebenselement einer Bürgerschaft wird, nicht einfach nur das ist, was sie sonst zu sein pflegt."

- Für den Bürger in dieser seiner Bürgerrolle war sie in dieser politischen Zeit allgegenwärtig.

Allerdings nur für diesen. Der Anspruch, daß politische Rechte und Waffenfähigkeit gekoppelt seien, erweiterte zwar die Zahl der politisch tätigen männlichen Vollbürger. Und deren Befugnisse vergrößerten sich im Zuge des Überganges von der Isonomie zur Demokratie. Ein wichtiges Ausschlußelement blieb jedoch bestehen. Um überhaupt zum Kreis derjenigen zu gehören, denen die Möglichkeit eröffnet wurde, zu politischen Rechten zu gelangen, hatte man männlich und frei zu sein. Das gesamte 5. Jh. unternimmt nicht einen (überlieferten) Ansatz, Bevölkerungsgruppen, die nicht diesen Anforderungen entsprachen, in die politische Mitbestimmung einzubeziehen. So rasant auch die Veränderungen in politischer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht waren, scheint die Berücksichtigung der ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen der Frauen, Sklaven und Fremden kein Thema gewesen zu sein. Zwar haben z.T. die Sophisten propagiert, daß alle Menschen gleich seien, eine gesamtgesellschaftliche Reflexion oder politische Diskussion gab es zu diesem Thema nicht.

Das Potential, das die politischen Veränderungen des 5. Jh. freigesetzt hatten, und das sich im Gegenzug wieder in ungheuren kulturellen wie auch politischen Veränderungen äußerte, hatte scheinbar für einem Großteil der Bevölkerung keine Bedeutung. Die Bürgeridentität, wesentliches Element und gleichzeitig Ausdruck dieses Potentials, verband einen Teil der Bevölkerung zu einem politischen, diese Identität auslebenden und demonstrierenden Körper - den restlichen Teil der Einwohner schloß sie umso deutlicher aus.

Die Polis war die Sphäre der freien Männer.

2.2 Tragödie - Bedeutungsvolles unter Masken

Vom Allgemeinen zum Besonderen. Von der Gesamtheit der Bürger-Polis zu einem Ausschnitt aus dem Polis-Leben: der Tragödie - ein die Bürgeridentität förderndes Element, aber auch Rahmen der unter Abschnitt 3.2 näher zu untersuchenden Darstellung der Frau. Um die Bedeutung der Tragödie zu erfassen, werden wir die Ursprünge, den konkreten Ablauf, die Beteiligten wie auch theoretische Positionen bezüglich Form, Inhalt und Wirkungen berücksichtigen.

2.2.1 Ursprünge

 

„Wenn nicht die gänzlich im Dunkel liegende Hervorbringung, so war jedenfalls die Ausbildung und Ausformung dieser poetischen Gattung eine genuine Leistung der Stadt Athen und ihres Umlandes"

 

Tragödie, in ihrer wörtlichen Bedeutung „Bocksgesang", da anläßlich des Bockopfers zu Ehren des Dionysos dargeboten, dürfte aus einer Fülle von Elementen uralter Rituale in einem langsamen Entwicklungsprozeß durch Verknüpfung mit der literarischen Form des Dithyrambos zu einer kultischen Dramenform geworden sein. Als Hervorbringer der ausgebildeteten Form gilt Thespis.

Der Wortsinn weist also auf einen Gott hin:

Dionysos - Außenseiter im olympischen Pantheon und „zuständig" für Wein, Rausch, Extase, Wahnsinn, Fruchtbarkeit, Zeugung, kurz Sinnlichkeit und Körperlichkeit - und Theater. Dieser augenscheinliche Gegenpol zum anderen Kunstgott, seinem strahlenden Bruder Apollon, trat seinen Siegeszug im griechischen Mutterland im 7. Jh. v.Chr. an, obwohl er als Gott für die Bauern und die „einfachen Leute" vermutlich schon früher Bedeutung hatte.

In der epischen Dichtung von Homer oder Hesiod spielt Dionysos nur eine untergeordnete Rolle; er ist kein Held.

Im Gegensatz zur harmonischen Ordnung des Apollon steht Dionysos für die unbegreifliche und erschütternde Seite des Göttlichen.

Seine Unkontrollierbarkeit (und auch die Unkontrollierbarkeit der seinen Kult ausübenden, umherziehenden Gefolgschaft) ist somit auch als latente Gefahr für jede Polis-Ordnung zu sehen.

 

„(He) represents the force of collective euphoria."

Trotzdem (oder gerade deshalb, um die Chance der Kanalisierung der Aktionen zu behalten) war Dionysos eine besondere Rolle im öffentlichen Kult Athens zugewiesen: bei den Festen.

Im 5. Jh. feierte man mehrere Feste, die ausdrücklich ihm zu Ehren stattfanden.

Das bedeutendste und auch für die Tragödie wichtigste waren die Großen (oder Städtischen) Dionysien, die der Tyrann Peisistratos anläßlich der jährlichen Wiedereröffnung der Schiffahrt in der Ägäis in den 540er Jahren ins Leben gerufen hatte.

Die Bedeutung der (zahlreichen) Feste für den inneren Frieden und das Zusammengehörigkeitsgefühl des sozialen Gefüges Athen sowie für das persönliche psychologische Gleichgewicht des Einzelnen sind kaum hoch genug einzuschätzen..

Nebenprodukt der großen Feste, gleichzeitig aber auch Teil ihrer sozial befriedenden Wirkung war die Entspannung oder Lösung des Ernährungsproblems. Bei den auf Kosten der Wohlhabenderen ausgestatteten Festen war es den Armen möglich, Fleisch zu essen, das sie sich, des hohen Preises wegen, für gewöhnlich nicht leisten konnten. Neben den bei den Festen teilweise stattfindenden Gemeinschaftsspeisungen sozusagen weltlichen Charakters war der entscheidendere Gesichtspunkt des Versorgungsaspekts der religiöse Brauch des den Göttern (im Rahmen der formal immer auch religiös geprägten Feste) darzubringenden Tieropfers, bei dem den Olympiern lediglich die Düfte der verbrannten, nicht eßbaren Teile, den Menschen hingegen das Fleisch des Tieres zum Verzehr zustand.

2.2.2 Aufführungspraxis

Die Feste des Theatergottes Dionysos hatten ihren Schwerpunkt in ihren dramatischen Aufführungen: die „Großen Dionysien" in den Tragödien, die hier seit ca. 534 zur Aufführung kamen und 486 um Komödien ergänzt wurden; die (eigentlich älteren) „Lennäen" in den 442 eingeführten Komödien, denen dann im Jahre 432 Tragödiendarbietungen zur Seite gestellt wurden.

Dabei spielte hier das für die griechische Kultur so wichtige Element des Wettbewerbs, des sogenannten Agon, eine große Rolle. Tragödien wurden nicht einfach aufgeführt, sondern immer sofort anderen gegenübergestellt, verglichen, bewertet, ausgezeichnet.

Zu den Großen Dionysien brachten drei Dichter, vorher ausgewählt vom Archon eponymos, dem höchsten Staatsbeamten, mit dem von jeweils einem reichen, ebenfalls vom Archon bestimmten, Bürger finanzierten Chor an drei aufeinanderfolgenden Tagen je eine Tetralogie, bestehend aus drei Tragödien und einem abschließenden Satyrspiel zur Aufführung.

Die Vorstellung dauerte jeweils den ganzen Tag und war in den realen Tageslauf (Morgengrauen, Mittagssonne, Dämmerung) eingebettet.

Der Sieger wurde auf denkbar komplizierte Weise ermittelt:

Kurzfristig vor Beginn der Aufführungen wurden aus nach Phylen geordneten Listen potentieller Juroren, die der Rat der 500 vorher erstellt hatte, zehn Bürger gelost, die das Preisgericht bildeten. Am Ende des Wettstreits gaben diese ihre Stimmen für einen Dichter ab. Von den zehn Voten wurden nun wieder fünf ausgelost, die allein zur Wertung kamen und deren Mehrheit den Sieger ergab. Gekürt wurden der Dichter mit dem entsprechenden Choregen, ab 449 auch der beste Schauspieler. Das genaue Stimmenverhältnis wurde nicht öffentlich gemacht.

Durch dieses Procedere sollte die Möglichkeit von Stimmenkauf und Einflußnahme ausgeschlossen werden. Man muß sehr viel Wert darauf gelegt haben, daß der Tragödien-Agon diesbezüglich in untadeligem Ruf blieb. Vielleicht hat er auch ein allgemeines Beispiel für eine vorbildliche Entscheidungsfindung sein sollen.

Der unbedingte Wille zur Unabhängigkeit war so stark, daß man in Kauf nahm, im Extremfall einen Sieger zu küren, der nur drei von zehn Stimmen erhalten hatte. Trotzdem sollten wir kein völlig unabhängiges Votum der Juroren erwarten. Dem Eindruck der Publikumsäußerungen werden sie sich kaum entzogen haben können.

Die Großen Dionysien dauerten ursprünglich drei, später bis zu sechs und während des Peloponnesischen Krieges dann wieder drei Tage. Der beispielhafte Ablauf eines solchen (hier fünftägigen) Festes sieht nach B. Zimmermann wie folgt aus:

 

erster Tag: Dithyramben-Agon: Chorwettstreit der zehn Phylen mit Männer- und Knabenchören, bestehend aus je 50 Personen;

zweiter Tag: Aufführung von fünf konkurrierenden Komödien;

dritter bis fünfter Tag: Tragödien-Agon: Aufführung je einer Tetralogie.

 

Neben den dramatischen Wettbewerben war als primärer religiöser Aspekt der Großen Dionysien die Einholung des (vorher ausgelagerten) Dionysos-Standbildes das den ersten Tag prägende Ereignis. Vor dem Tragödien-Agon wurden die volljährigen Söhne der während des Jahres für Athen gefallenen Bürger im Theater zeremoniell auf Staatskosten mit einer Rüstung versehen, um dann auf Ehrenplätzen den Aufführungen beizuwohnen.

Die Großen Dionysien waren kein auf Athen beschränktes, sondern ein sozusagen panhellenisches Ereignis. Auswärtige Gesandte waren zugelassen, erwünscht und zu Zeiten des attisch-delischen Seebundes, als die Tributzahlungen der Bündnispartner an Athen vor der Eröffnung des Tragödienwettbewerbes öffentlich ausgestellt wurden, sogar ausdrücklich zur Teilnahme angehalten.

Neben dieser gemeingriechischen Öffentlichkeit vollzog sich das Fest und zumal sein Kernstück Tragödien-Agon aber auch vor der einheimischen Öffentlichkeit. Die Aufführungen waren Massenveranstaltungen im anfangs 10 000, später 17 000 Personen fassenden Dionysos-Theater am südlichen Fuße der Akropolis. Somit ist davon auszugehen, daß ein Viertel bis ein Drittel der Bürgerschaft diese Aufführungen erlebt hat.

 

„Die Tragödie von Aischylos oder Sophokles () ist nicht geistige Nahrung einer Elite, sondern das hohe Fest des ganzen Volkes."

Eine Aussage, die man u.a. darauf stützen kann, daß die (derbe, beim Volk beliebte) Komödie, zumal die des Aristophanes, wesentlich von Anspielungen auf die Tragödie lebte und nicht verstanden worden wäre, wollte man die Tragödie als einem engeren Kreis vorbehalten verstehen.

Die so unterstellte breite Kenntnis der Tragödien ist bemerkenswert nicht nur des eben nicht elitären Charakters wegen, sondern auch vor dem Hintergrund, daß jede einzelne Tragödie Ur- und Einmal-Aufführung war. Erst im Jahre 386 wurde generell die Wiederaufführung alter Stücke gestattet.

Zweifelhaft ist die Qualität der immerhin gut 80 Meter von der Bühne entfernten hinteren und oberen Zuschauerplätze bezüglich der Akustik.

Gefangene wurden zum Theaterbesuch unter bestimmten Bedingungen auf freien Fuß gesetzt. Ob Frauen (und wenn, welchen Frauen), Kindern oder Sklaven der Zutritt gestattet war, ist unklar, entsprechende Regelungen sind aber nicht auszuschließen. Zumindest spielte die finanzielle Potenz des Bürgers hier keine Rolle: Die Erhebung von Eintrittsgeldern privater Theater-Pächter, die das ältere Prinzip des freien Eintritts ablösten, wurden unter Perikles durch eine staatliche „Schaugeldzahlung" an die Besucher ausgeglichen. Zu bestimmten Zeiten hat es daneben sogar eine Art Entschädigung für Verdienstausfall während des Tragödienbesuchs gegeben. Das spricht für die besondere Bedeutung, die die Tragödie für die Polis hatte. Allerdings ist hier einschränkend zu berücksichtigen, daß eine entsprechende Verdienstausfall-Regelung von der Volksversammlung getroffen worden sein muß - und damit von denjenigen, die für sich in den späteren Jahrzehnten des 5. Jh. in zunehmendem Maße Gelder für die Wahrnehmung öffentlicher Ämter und Veranstaltungen bewilligten.

2.2.3 Agierende Akteure

Eine Annäherung an die gesellschaftliche Bedeutung von Tragödie kann auch über die Untersuchung der sozialen Stellung der agierenden Akteure, d.h. der Schauspieler und der Dichter, versucht werden.

2.2.3.1 Schauspieler - Männer mit Maske

Welcher Personenkreis als Darsteller in Frage kam, ist unklar. Die Zahl der die einzelnen Stücke tragenden Schauspieler, die wie die 12 bis 15 Chormitglieder Bürger der Polis waren, stieg nie über drei an. Eine Szene konnte also nie von mehr als drei Personen bestritten werden. Da die Tragödien in aller Regel aber eine größere Anzahl an Charakteren aufwiesen, heißt das, daß ein Schauspieler mehrere Rollen zu übernehmen hatte, in die er mittels Kostümen und der, in der Tragödie ohnehin obligatorischen, Masken schlüpfte.

Die Tatsache, daß die Schauspieler durchweg männlichen Geschlechts waren, erhöhte die Anforderungen an ihre Wandlungsfähigkeit angesichts der zu besetzenden Frauenrollen. Andererseits kann die optische Glaubwürdigkeit der Darsteller bei so verschiedenen und auch verschiedengeschlechtlichen Rollen kaum hoch gewesen sein, was ein Hinweis darauf ist, daß äußerliche Authentizität nicht das Entscheidende gewesen ist.

Die einzige Möglichkeit, sich im Tragödien-Kontext ohne Maske zu zeigen, war für den Schauspieler der „Proagon", an dem die als Regisseure fungierenden Dichter zwei Tage vor dem Dionysos-Fest die Gelegenheit bekamen, ihre Stücke und eben auch die Schauspieler kurz vorzustellen.

Dieser Proagon führt uns auf die erwähnten akustischen Verhältnisse im Dionysos-Theater zurück: Auch die sprechtechnische Anforderung an die Schauspieler scheint in Anbetracht der großen Theaterfläche hoch gewesen zu sein. Da auch deren Fähigkeiten es vielleicht nicht immer ermöglichten, eine Verständlichkeit des Stückes bis in die letzten Reihen zu realisieren, war vermutlich der Proagon mit seiner kurzen Inhaltsangabe der Stücke eine Konzession an die möglicherweise doch nicht zu bewältigende Aufgabe der akustischen Verständlichkeit.

Die Proben für eine Tetralogie sollen sieben Monate gedauert haben, während derer die Schauspieler vermutlich von öffentlichen Verpflichtungen wie etwa dem Militärdienst befreit waren und, ebenso wie die Dichter-Regisseure, ein Honorar von der Stadt erhielten.

Sowohl diese Vergünstigungen als auch die Anforderungen an die Schauspieler und die abschließende Auszeichnung des Besten deuten darauf hin, daß ihre Leistung akzeptiert und ihr soziales Prestige eher hoch als niedrig war, wenngleich auch diese Frage strittig ist und auch andere Positionen vertreten werden.

2.2.3.2 Dichter - Männer der Muse

Mehr als die Darsteller standen die Dichter im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Verschiedene Namen sind hier überliefert wie bspw. der des wegweisenden Thespis oder der des Agathon. Gleichsam individuelle Züge nehmen für uns lediglich drei Tragiker an. Die drei „Großen" des 5. Jh.: Schon die antike Überlieferung verknüpft Aischylos, Sophokles und Euripides miteinander und mit dem das politische Selbstbewußtsein Athens neu prägenden historischen Ereignis, der Schlacht von Salamis. Durch diese Verbindung sind die Dichter automatisch in einen bedeutsamen Kontext gestellt:

Aischylos soll bei Salamis aktiv gekämpft und Sophokles als Jüngling den Siegesreigen nach dem Kampf angeführt haben - genau am Tag der Geburt des Euripides.

 

 

Aischylos

Aischylos wurde um 525 v.Chr. in Eleusis geboren und starb 456 auf Sizilien, wo er sich mehrmals am Hofe des Tyrannen Hieron aufgehalten hatte. Wie oft bei antiken Biographien, besitzen wir auch zu Aischylos wenig gesicherte Erkenntnisse.

Er entstammte einer aristokratischen Familie und kämpfte bei Marathon und Salamis gegen die Perser.

An den Großen Dionysien ist er vermutlich erstmals 499 angetreten. Die 13 Agone, an denen er von 484 bis 458 teilnahm hat er ausnahmslos gewonnen.

Aischylos hat ca. 90 Stücke geschrieben, von denen uns sieben überliefert sind, darunter als einzige geschlossen erhaltene Tragödien-Trilogie der Zeit, die Orestie von 458.

Die einzelnen Stücke seiner Zyklen standen durchweg noch in inhaltlichem Zusammenhang, und dieser Inhalt war mitunter, wenn auch bei ihm als Ausnahme, zeitgenössischen Charakters.

Häufiger stellte er die Götter in den Mittelpunkt. Sie wurden nicht nur in ihrer Wirkungsmacht beschrieben, sondern als handelnde Personen offenbar. Der gefesselte Prometheus spielt sogar ausschließlich unter Göttern.

Aischylos soll unter Anklage gestellt worden sein, weil er Geheimnisse der Eleusischen Mysterien in seinen Stücken verraten habe. Er wurde jedoch freigesprochen.

Aischylos führte früh den zweiten Schauspieler auf der Bühne ein und gilt bei der Erfindung von Schaueffekten als der kühnste Dramatiker.

Nach seinem Tod wurde, als Ausnahme von der Regel und besondere Ehrung, die Wiederaufführung seiner Stücke zugelassen.

 

 

Sophokles

Besonders interessant bei der Untersuchung des Tragikers und seines Einflusses in der und auf die Polis ist Sophokles. Er hat nahezu das gesamte Jahrhundert mit seinen Höhen und Tiefen für Athen bewußt erlebt und in mancherlei Hinsicht aktiv begleitet.

Er wurde 497 oder 496 im attischen Demos Kolonos als Sprößling einer wohlhabenden Familie geboren und genoß eine gute Erziehung.

Sophokles brachte sein gesamtes Leben in Athen zu und wurde in dreifacher Weise öffentlich tätig: als Dichter, als Inhaber hoher staatlicher Ämter und im Dienst der Kulte Athens. Er verbindet somit in seiner Person die dominanten öffentlichen Bereiche der Polis.

Im Jahr 468 trat Sophokles zum ersten Mal an den Großen Dionysien bei den tragischen Wettkämpfen an. Er nahm auch in den folgenden 60 Jahren an Wettbewerben teil und errang 18 mal den ersten Preis. Von seinen bezeugten 113 Stücken sind sieben Tragödien und ein Satyrspiel erhalten. Seine letzte Tragödie Oidipus auf Kolonos wurde erst nach seinem, im Jahre 406 erfolgten, Tod 401 aufgeführt.

Im Staatsapparat bekleidete Sophokles wichtige Ämter. 443/42 war er Schatzmeister der See-Bundeskasse und 441 bis 439 zusammen mit Perikles, mit dem er ebenso wie mit Herodot persönlichen Kontakt pflegte, Stratege. Bezüglich des Erringens dieses Postens und auch Sophokles’ Fähigkeiten in diesem Amt bestehen unterschiedliche Auffassungen. So wird behauptet, er habe die Stelle wegen der zuvor erfolgten Aufführung der Antigone erhalten, wäre von Perikles aber schon nach kurzer Tätigkeit wegen mangelnder Fähigkeiten als Feldherr nur für diplomatische Verhandlungen eingesetzt worden.

Fest steht jedoch, daß er um 428 noch einmal Stratege war. 413, nach dem gescheiterten Angriff Athens auf Sizilien und den folgenden innenpolitischen Unruhen, war er Mitglied der Körperschaft der zehn Probulen, die die brüchig gewordene Demokratie stabilisieren sollte - freilich auf Dauer ohne Erfolg.

Auch an den Kult in Athen hatte Sophokles eine enge Anbindung. So soll er das Priesteramt für den attischen Heildämon Halon bekleidet, den Kult des Gottes der Heilkunde Asklepios eingeführt haben und dessen erster Priester gewesen sein.

Sophokles führte in seinen Tragödien den dritten Schauspieler ein und gab das trilogische Schema, das bis dahin das Schicksal meist eines Geschlechtes in drei aufeinanderfolgenden Tragödien behandelt hatte, auf. Der gesamte Handlungsablauf wurde bei ihm in einer einzigen Tragödie dargestellt.

Die sophokleischen Tragödien haben keinen zeitgenössischen Stoff zum Gegenstand - sie treten nicht aus dem Rahmen des Mythos hinaus.

Die Götter sind bei Sophokles als Hauptpersonen aus der Handlung verbannt, die sich nur im zwischenmenschlichen Bereich abspielt. Allerdings sind die Hintergründe aller Handlungen göttlich. Alles, was ist und geschieht, ist göttlich, aber der Sinn des Wirkens der Götter enthüllt sich dem Menschen nicht. Es kommt dem Menschen nicht zu, göttliche Geheimnisse zu durchblicken oder sich gar gegen göttliches Walten aufzulehnen. Die Einstellung des Sophokles scheint sich hierbei im Laufe seines Lebens zu wandeln. Die späten Stücke sind nicht mehr in dem Bewußtsein der tragischen Willkür der Götter sondern eher im gläubigen Ergebensein in diese Willkür verfaßt.

 

 

Euripides

Euripides wurde zwischen 485 und 480 v.Chr. (eventuell kurz nach der berühmten Schlacht) als Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers auf der Insel Salamis geboren. Gestorben ist er im Frühjahr des Jahres 406 in Makedonien, wo er seine letzten beiden Lebensjahre am Hof des Königs Archelaos verbracht hatte. Über sein Leben ist wenig bekannt. Er soll von Anaxagoras und Protagoras unterrichtet worden sein, hat sich mit den Denkansätzen gerade der Sophisten intensiv auseinandergesetzt und war ein vehementer Verteidiger der athenischen Demokratie. Trotzdem hat er nie politische Ämter bekleidet.

Seit 455 nahm er an 22 Tragödien-Agonen bei den Großen Dionysien teil, von denen er (lediglich) vier als Sieger abschloß. Von seinen mithin etwa 90 Stücken sind aus den Jahren von 438 bis 406 17 Tragödien und ein Satyrspiel überliefert, die den Unterschied (und eine gewisse, vielleicht aus diesem Unterschied resultierende Unpopularität) seines Werkes im Vergleich zu dem von Aischylos und Sophokles deutlich machen: seine Götter sind menschlicher, seine Heroen bürgerlicher. Man sieht mehr Realität und Elend als Idealität und Erhabenheit.

Der „Deus ex Machina", der mehr oder weniger unvermittelt auftretende Gott, der die (durch Menschlichkeit bzw. menschliche Schwäche) verfahrene Situation im Sinne des Mythos „rettet", ist ein häufiges Stilmittel.

Die traditionell abschließenden Satyrspiele hat Euripides oft durch eine „leichtere", vierte Tragödie ersetzt.

Die Realität und Rationalität, die Euripides darstellt, macht ihn zum geistigen Verwandten der Sophistik und ließ ihn vor kritischen Augen von Aristophanes bis Nietzsche immer wieder als den Mörder der Tragödie erscheinen. Der ebenfalls bei Aristophanes auftauchende Vorwurf der Frauenfeindlichkeit des Euripides läßt sich heute an Hand seines Werkes kaum halten.

2.2.4 Theoretische Überlegungen

Im folgenden wollen wir darlegen, wie sich die attische Tragödie formal, inhaltlich und in ihrer Wirkung definieren oder wenigstens eingrenzen läßt. Unverzichtbare Quelle ist dabei Aristoteles (384 - 322 v.Chr.), dessen Poetik sich zu einem erheblichen Teil diesem Thema widmet.

2.2.4.1 Einführung: Aristoteles (gegen Platon)

Bezüglich des Aufbaues und der Inhalte der Tragödie (wobei hier bei der Verwendung des Begriffes immer die ausgebildete Form des 5. Jh. gemeint ist) liegen mit der aristotelischen Poetik Ausführungen vor, die bis heute bei Diskussionen über das Thema immer wieder als Ausgangsposition herangezogen werden. Bei aller Beachtung der Schrift muß jedoch klar sein, daß der Autor erstens kein Zeitgenosse der Hoch-Zeit der Tragödie im 5. Jh. war und daß zweitens die Poetik ursprünglich nur für den internen Gebrauch der Peripatetiker entworfen war und somit auf bestimmte, für den Außenstehenden erhellende, Erläuterungen verzichtet.

 

Hier finden wir jedenfalls die älteste Tragödienbeschreibung:

 

„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache (...) - Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt (...)

Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos (...)

Außerdem sind die Dinge, mit denen die Tragödie die Zuschauer am meisten ergreift, Bestandteile des Mythos, nämlich die Peripetien und die Wiedererkennungen (...)

Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos."

Und etwas später: „Das sind zwei Teile der Fabel, die Peripetie und die Wiedererkennung; ein dritter ist das schwere Leid."

 

Die Poetik ist auch eine indirekte Antwort auf Platon (427 - 347 v.Chr.). In dessen Gedankengebäude ist die sinnlich wahrnehmbare Welt bloß ein unvollkommenes Abbild der für uns unsichtbaren Ideenwelt - jedes sichtbare Ding nur eine schlechte Kopie der ursprünglichen Idee des entsprechenden Dinges. Theater, das sichtbare Wirklichkeit möglichst genau nachahmen will, steht im gleichen Verhältnis zu dieser Wirklichkeit, wie diese zu ihrer Idee - kann also nur Trugbild von Abbildern sein. Der Dichter ist unzulänglicher „Nachbildner von Schattenbildern" .

Andererseits ist Platons rein praktische Anforderung an Dichtung, daß sie unbedingt wahr sein muß.

Dichtung soll zum Guten erziehen. Götter und (von ihnen abstammende) Heroen sind gut, wahrhaft, ohne Falsch - und sie sind Vorbilder. Was die Dichtung ihnen an Schlechtigkeit „anlügt" ist also unzulässig. Aus diesem Gedankengang heraus dürfen Epos und Tragödie generell nicht lügen.

Unter Berücksichtigung seiner Ideenlehre ist Dichtung für Platon also von vornherein unzulänglich, wenn nicht unhaltbar.

Aristoteles folgt der Ideenlehre im Sinne Platons nicht. Er sieht vielmehr die Gesamtheit der einzelnen Dinge einer Gattung die Idee dieser Gattung erst konstituieren, nicht jeweils mehr oder weniger schlecht kopieren. Deshalb fehlt ihm die erste von der Wahrheit absteigende Stufe Platons, und er kann Dichtung also als Abbildung der Wirklichkeit sehen. Diese Abbildung muß jedoch keine getreue Spiegelung sein. Sie kann Perspektiven berücksichtigen.

 

Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte (...)

Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit."

Also ist bei Aristoteles auch die dichterische Freiheit (Platon würde sagen: Lüge) nicht zu verwerfen. Hier nötigt er sich einen Spagat ab, denn „es ist nun nicht gestattet, die überlieferten Geschichten zu verändern", da der Mythos ihm als historische Wahrheit gilt. Wohl kann der Dichter aber „erfinden" und „wirkungsvoll verwenden".

In Verbindung mit den bei Aristoteles so oft verwendeten Vokabeln Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit wird man wohl schließen können, daß der Kern eines Mythos, die wesentliche Tat oder Konstellation die geschildert wird, als unveränderliche Wahrheit bestehen bleiben muß, die Rahmenhandlung aber gewisse Freiheiten erlaubt, sofern nicht durch mangelnde Schlüssigkeit der ganze Mythos unglaubwürdig und aufgelöst wird.

Eine zwar mit Platon gemeinsame gewisse Affektfeindlichkeit läßt Aristoteles die Tragödie aber trotzdem eher schätzen als verwerfen. Denn Emotionen werden im Theater zwar hervorgerufen, reinigen hierdurch aber auch von „derartigen" Zuständen, mäßigen also vorhandenes Potential an vernunftlosen Leidenschaften.

 

„Dichtung - darauf läuft seine Lehre hinaus - steckt nicht an, sondern impft."

2.2.4.2 Fortführung: Inhalt, Form und Wirkung

Unter Berücksichtigung der Beschreibung des Aristoteles und aktueller Autoren lassen sich bestimmte Merkmale feststellen, die äußere Gestalt, Inhalt, Intention und Wirkung der Tragödie charakterisieren.

 

Der Handlungsstrang läßt auf einen Wendepunkt der Handlung (Peripetie), eine Erkennung (einen Sprung von Unwissenheit zu Erkenntnis) und eine Auflösung des Geschehens folgen. Dabei ist, wie anhand dieses formalen Handlungsstranges schon zu vermuten, die Tragödie stets von großer Dynamik geprägt: „Die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten."

Von der Art und Bedeutung der Musik der Aufführungen weiß man so gut wie nichts.

Vom inneren Handlungsablauf scheint Tragödie - inhaltlich überwuchert von Begriffen wie Schicksal, Schuld, Opfermut und Selbstbehauptung - als die dramatische Gestaltung des Wissens um die Bedrängtheit des Menschen. „Leid ist für die Tragödie unabdingbar" so Schadewaldt. Tragödie bedeutet für den Handlungsträger den Zusammenstoß mit etwas, das stärker ist als er und durch Aufklärung und Auflehnung - durch verbales oder tätiges Agieren - nicht geändert werden kann. „Der Skandal der Vernunft" wie von Schirnding meint, denn „wo Vernunft waltet, gibt es keine Tragik" so auch Schadewaldt. Aber auch wenn der auszufechtende Kampf meist aussichtslos ist, den Menschen oft noch tiefer in die Verstrickung führt, zentral scheint das Grundmotiv des sich aufbäumenden Menschen zu sein, des sich im Leid Aufbäumenden und als Gebot menschlicher Existenz bis zum Ende Widerstrebenden. Dabei muß der in eine ausweglose Situation verstrickte Träger des Geschehens die Handlung am Ende in sein Bewußtsein gehoben haben und also wissend das Kommende durchleiden.

In welchem Zusammenhang agiert nun die tragische Hauptperson? Ist sie, wie der Anlaß der Tragödienaufführungen nahe legt, eine Figur, die dem Kult des Dionysos in irgendeiner Form verbunden ist, oder - vom äußeren Rahmen der Tragödienwettbewerbe her gedacht - eine Person des öffentlichen Lebens?

Tragödie steht, wie bereits erläutert, seit frühester Zeit in Zusammenhang mit religiösem Kult. Auch im 5. Jh. weisen äußere Merkmale, wie etwa der obligatorische Altar in der Mitte der Orchestra eines jeden Theaters, auf einen starken religiösen Zusammenhang hin, allerdings führen die Inhalte der erhaltenen Tragödien in eine andere Richtung. Obwohl vereinzelte Tragödien Dionysos’ Kampf gegen Feinde zeigen, ist dieser Stoff nie zum Hauptthema der Gattung geworden, und als zentrale Figur der Handlung läßt sich Dionysos nicht ausmachen. Zeitgeschichtlich aktuelle Stoffe, wie sie z.B. Aischylos in den Persern zur Aufführung brachte, waren unüblich. Die Behandlung tagespolitischer Ereignisse wiederum blieb der Komödie vorbehalten.

Inhaltlich wurde die Tragödie von einem anderen Gebiet der griechischen Kultur bestimmt: vom Heroenmythos. In dieser Hinsicht zeigt die Tragödie, um auf Aristoteles zurückzukommen, Verwandtschaft mit dem Epos. Beide wurzelten inhaltlich im Mythos, wenngleich die Tragödie dem Epos überlegen sei.

Zunächst waren es wohl beliebige Mythen, größtenteils der Lyrik und dem Epos entnommen, bis man, dem tragischen Handlungsschema folgend, die Tragödienstoffe wenigen Sagenkreisen entnahm, etwa denen um Herakles oder die Argonauten und Atriden sowie den Mythen um Troja und Theben.

Bei der Verarbeitung der Mythen verfuhren die Dichter mit großer Freiheit. Die Unbestimmtheit der Mythen ermöglichte es, Einzelheiten auszuschmücken, umzudeuten oder ganz wegzulassen. Verbunden mit der begrenzten Zahl der für die Bearbeitung geeigneten Mythen war es so möglich und gängig, daß die gleichen Sagenstoffe von verschiedenen Dichtern dargestellt wurden.

In diesem Zusammenhang ist auch besonders der Zuschauer und der äußere Rahmen der Tragödie von Bedeutung. In der erwartungsgeladenen Atmosphäre der Tragödienwettbewerbe, wo von den über 15 000 Zuschauern jedermann die alten Mythen kannte, konnte Spannung vor allem dann erzeugt werden, wenn Motive und Sinn der altbekannten Stoffe gedeutet und ausgelegt und nicht immer in gleicher Weise nachgestellt wurden.

 

Des weiteren ist die Wirkungsdimension der Tragödie zu betrachten. Tragödie sollte die Betrachter angehen, nach ihnen greifen, sie packen.

Die Tragödienbeschreibung des Aristoteles hat, besonders bezüglich der Begriffe Jammer und Schaudern, die ja diese unmittelbare, ungefilterte Betroffenheit gut zum Ausdruck bringen, viele verschiedene Deutungen erfahren und Diskussionen hervorgerufen.

Die von ihm in den Mittelpunkt gestellte quasi sozialpsychologische Wirkung ist nicht die einzig denkbare.

Synnøve des Bouvrie unterscheidet drei „workings":

Der „dramatic level" ist ein intellektuell-kognitiver. Hier läuft nüchterne Analyse von dargestellten Handlungs- oder auch Organisationsformen, von individuellen wie kollektiven Modellen ab, wird logisch reflektiert und ggf. ein praktisch-politischer oder auch ethisch-philosophischer Schluß gezogen. Auf dem „tragic level" findet der von Aristoteles beschriebene Reinigungsprozeß durch emotionales Auf und Ab statt. Eine weitere Dimension aber, und diese zu zeigen ist des Bouvries Anliegen, ist der „symbolic level": Inhaltlich konkreter als der „tragic level" schafft er Emotionen zu „undicussed truth", zu „unquestionable values and institutions".

„...It affected the imagination and emotions of the audience, thus performing its hidden persuation."

2.2.4.3 Rückführung auf den inhaltlichen Kern: der Mythos und seine Bedeutung

Der wesentliche Bestandteil der inhaltlichen Komponente der Tragödie sind Mythen, deren Handlungslinie für jeden Athener und den Großteil der sich in Athen aufhaltenden Fremden bekannt und vertraut war.

Wir widmen diesen Unterpunkt der Vertiefung eines schon angesprochenen Aspekts, um zu ermitteln, welche Dimension diese Inhalte der Tragödie für den Zuschauer hatten. Wurden sie als erfundene Episoden verstanden oder als vergangene Ereignisse und somit als Realgeschichte aufgefaßt? Letzteres ist ein Verdacht, der sich schon in der aristotelischen Poetik angedeutet hat, und die Beantwortung dieser Frage hat vermutlich erhebliche Auswirkungen auf die Bedeutung, die den Stücken beigemessen wurde.

 

Wir können hier bestenfalls versuchen, eine Annäherung an die facettenreiche Fragestellung um einen schillernden Begriff zu gewinnen. Der Konsens der Definition von „Mythos" reduziert sich auf „traditionelle Erzählung" . Das ist nicht viel und bleibt eng an der direkten Wortbedeutung des griechischen Terminus. Mythos ist unter formalen Gesichtspunkten eine tendenziell offene, erzählende Sequenz.

Einen eingrenzenden Zugang bieten verschiedene Gedanken zu Entstehung, Entwicklung und Funktion von Mythen.

Nach Erich Fromm „geht der Mythos aus dem Unterbewußten der Menschheit in ähnlicher Weise hervor, wie der Traum aus dem Unterbewußtsein des Einzelnen" , wäre also notwendig auftretende, gleichwohl aber nicht zu steuernde Verarbeitung von Realität.

Die Gegenposition scheint vertreten von Horkheimer und Adorno, die annehmen, daß Mythos begreiflich machen, erklären will und also durch dieses Wollen so etwas wie (aktive) Aufklärung ist. Aufklärung aber mit dem Ziel der Erkenntnis der Ohnmacht.

Bei Hans Blumenberg geht der Ansatz der bewußten Entstehung bzw. Schöpfung des Mythos mit der Funktion desselben Hand in Hand - hier auf die Formel gebracht, daß Mythos ein „Stück hochkarätiger Arbeit des Logos" sei, in der Absicht, mit dem „Schrecken des Realen" durch „Schaffung eines Sinnganzen" zu versöhnen. Seine Aufgabe ist es, „Modelle zu offenbaren und damit der Welt und dem menschlichen Dasein eine Bedeutung zu verleihen" . Durch Komplexitätsreduktion füllt er die Lücke, die Rationalität nicht schließen kann.

Oder werden die alten Erzählungen eher beiläufig zu Mythen - durch stetig wiederholtes Aufgreifen der Themen in bildender Kunst und Literatur, durch immer wieder Erzählen, Neuerzählen, Weiterspinnen, Umdeuten?

Mythos ist also im Fluß. Aber gerade die verschiedenen erfolgenden Umdeutungen und Schwerpunktsetzungen deuten auf die politische Dimension des Phänomens hin:

 

„Das nämlich war seit jeher das Bestreben derer, die Mythen gedeutet haben: die Bedeutung der mythischen Erzählung eindeutig werden zu lassen, sie zu präzisieren und festzulegen, um so beispielsweise dem Gründer eines Gemeinwesens mythischen Glanz zu verleihen, um Vorbilder zu schaffen, die zur Nachahmung einladen, um bestimmte Aspekte von Entwicklungen unsichtbar werden zu lassen, schließlich auch, um Mut zu machen und Selbstvertrauen zu geben." Hier sieht Münkler Deutungseliten am Werk, die sicher eine bedeutende Rolle spielen. Nichtsdestoweniger wäre eine Gleichsetzung von Mythos mit Ideologie (im Sinne von herrschaftsstützender Fehlmeinung) zu kurz gegriffen.

Über diese erzieherische, handlungsanleitende Dimension hinaus ist Mythos auch auf subtilere Art soziologisch-politisch:

 

„Myths (...) constitute a discourse (...) through which members of the community - those who share the same myths - use the past to think about the present."

So Tyrrell und Brown. Und weiter:

 

„Mythic discourse is political in that a group of people identify themselves as related to one another and distinct to other groups by telling the same myths."

 

Was „Mythos" ist, haben wir nun (ansatzweise) gezeigt. „Geschichte" sei für uns diejenige Ausdrucksform, die wahre Ereignisse der Vergangenheit, deren Akteur der Mensch ist, erzählt.

Die Inkompatibilität der beiden Gattungen scheint im Begriff der Wahrheit zu wurzeln.

Die Frage nach der Wahrheit der Mythen scheint aber eine in der historischen Perspektive konstruierte, oder anders ausgedrückt, eine für den Zeitgenossen sich nicht stellende zu sein.

 

„The authority imparted by time and by the voice of Homer and countless other poets had conditioned the Greeks to believe that their myths held truth."

Oder direkter:

 

„Der Mythos war grundsätzlich wahr."

Bis zu Thukydides, dessen Darstellungsobjekt Peloponnesischer Krieg und vielleicht auch dessen Persönlichkeit den Ausgang des 5. Jh., den Abgang des klassischen Athen und damit auch der Hochzeit der Tragödie symbolisiert, ist das genannte Verhältnis Mythos - Geschichte offensichtlich überaus unkritisch und gleichsetzend betrachtet worden. Die Forschung ist sich daher in der Beurteilung der Begriffe als im Verständnis der Zeit (annähernd) gleichbedeutend einig.

2.2.5 Exkurs: Komödie

 

„It is absolutely necessary to distinguish between the representation of women in comedy and the representation of women in tragedy." Denn die beiden Gattungen sind unseres Erachtens nach kaum vergleichbar.

Tragödie ist eine ernste bis erhabene Sache, die glaubhaft sein will und eine enge Beziehung zwischen der Bühne und dem Publikum aufzubauen versucht. Anders die Komödie:

Das zweite Buch der Poetik des Aristoteles, das sich wohl der Komödie gewidmet hat, ist verloren gegangen. Eine der Entstehungszeit nahe theoretische Auseinandersetzung fehlt also.

Liest man nun die wenigen erhaltenen Werke, wird die Differenz zur Tragödie offensichtlich: Die sogenannte „ältere Komödie" des 5. Jh., deren hervorragender Repräsentant Aristophanes ist, ist derb, respektlos, vulgär, ironisch, utopisch, mit tagespolitisch aktuellen Anspielungen ganz konkreter Art gespickt - insofern geradezu modern anmutend und inhaltlich also in jeder Beziehung ein Gegenentwurf zur Tragödie.

Auch scheint die Tragödie der Polis bedeutender gewesen zu sein, wofür die Aufladung des Tragödienrahmens (mit der Ausstattung der Kriegswaisen, der Ausstellung der Tributzahlungen, etc.) und der ihr zugebilligte, ungleich größere Zeitrahmen spricht.

Die Untersuchung der politischen Bedeutung der Rolle der Frau in der Komödie wie auch die Frage, inwiefern sich aus der Komödie Aussagen über die Realität ableiten lassen, muß daher ausgespart bleiben. Die Verknüpfung mit einer Tragödienuntersuchung scheint nicht nur nicht zwingend, sondern sogar eher künstlich. Das Eingehen gerade auch auf die frauenspezifischen Komödien erfordert der offensichtlich ganz anders implizierten Wirkungsweise wegen ein anderes Herangehen.

2.2.6 Fazit: die politisch-gesellschaftliche Institution Tragödie

An dieser Stelle möchten wir aus dem bisher Gesagten festhalten, daß die Bedeutung der Tragödie des 5. Jh. über die des reinen Kunstgenusses hinausging und sich auf religiöse, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge erstreckte.

Die darauf hindeutenden Indizien sind die Einbettung in das Dionysos-Fest, die politisch-symbolischen Handlungen zu Beginn des Tragödien-Agons vor einer ganz bedeutenden lokalen wie überlokalen Öffentlichkeit und der offensichtliche Anspruch, daß die Ausrichtung (des Festes, aber eben auch seines Kernstücks Tragödien-Agon) Angelegenheit der Polis, Staatssache sei.

 

„Um 10 000 Leute unterzubringen, bedarf es eines geeigneten Raumes. Dieser muß gefunden und hergerichtet werden; eine Bühne ist erforderlich, mit Schauspielern, die etwas einstudiert haben. Es muß ein Beschluß darüber vorliegen, wann gespielt wird und wie der Zutritt zu regeln ist. Das alles sind die Merkmale einer Institution." - Einer gesellschaftlichen Institution im Sinne von Strukturierung sozialer Interaktion, einer politischen im Sinne von Strukturierung des Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesses, zu dem eine Tragödie oder die Diskussion um sie gehört.

Der oftmals dem alten Adel entstammende höchste Staatsbeamte, der Archon eponymos, hatte das eingereichte Stück zu überprüfen und zuzulassen. Diese Kanalisierungsfunktion macht ihn als Akteur im Spiel um die Stabilität des Gemeinwesens zu einem wichtigen Faktor. Denn Institutionen haben neben ihrer formal-strukturellen Ebene auch eine funktionale Seite mit normativem Anspruch. Ihre formale Struktur ist die einer auf Dauer gestellten Organisation mit im Laufe der Zeit internalisierten Regeln und Aufgaben. Neben der durch sie zu leistenden Festlegung der im institutionellen Kontext als gültig und ernstzunehmend betrachteten Arten der Handlung, Sprache, Argumentation sind Institutionen aber eben auch Wertvermittlungsinstanzen.

Die Tragödie war dienlich, den Verlust oder den Gewinn bestimmter Werte und Normen zu verdeutlichen. Hier verband sich herkömmliches, mythisches Denken mit neuen rationalen Ansätzen, Volkskultur mit Hochkultur. Die Tragödie könnte dazu gedient haben, immer wieder am Mythos durchzuspielen, was die Bürgerschaft bewegte - in einer bewegten Zeit immer wieder an bestimmte Grundwerte, die erhaltenswert schienen, zu erinnern und diese zu vergegenwärtigen.

Zurückliegende Ereignisse (als die die Mythen verstanden wurden) ermöglichen Distanz und damit einen rationaleren Umgang mit dem Geschehen. Distanz schaffte auch die Maske, die jeder Schauspieler trug. Sie ist in zweierlei Hinsicht beachtenswert. Einerseits nimmt sie die Funktion eines notwendig zu einer Institution gehörenden Symbols wahr. Zum anderen hebt sie die Handlung durch die Entpersonalisierung des Schauspielers auf eine höhere, eine über-subjektive Ebene. Eine Aktualität war in Geschehen und Personen nicht unbedingt offensichtlich oder handlungsanleitend, die grundsätzliche Thematik jedoch zeitlos.

Das Gegenbild wäre hier die Komödie, die tagespolitische Themen zum Inhalt hatte und starke Emotionen hervorrief, die allerdings relativ schnell „verpufften". In diesem Zusammenhang können sowohl Tragödie als auch Komödie als ritualisierte Formen zur Lösung gesellschaftlicher Spannungen gelten.

Wir haben gezeigt, daß die Feste, die in Athen gefeiert wurden, großen Raum einnahmen. Anhand der diesen Festen zugemessenen Bedeutung und ihrer Dimension wird man sagen können, daß die Feste nicht Unterbrechung des Alltags, also Freizeit und Erholung darstellten, sondern wichtiger Bestandteil dieses Alltags in der athenischen Polis waren. Das Fest war ein maßgebliches Element des Zusammentreffens der Bürger und war für die gesamte attische Bürgerschaft bestimmt. Nicht für ein spezielles Theaterpublikum, sondern für alle, die die Bürgerschaft stellten, und noch für bestimmte Kreise darüber hinaus. „Sie verstanden sich als Teile einer Stadt, die sie untereinander ausmachten, nicht im Sinne eines Uhrwerkes, sondern in dem einer Gesamtheit aus Gleichen. Daher sahen sie die Welt mit politischen Augen. Daher wurden die Gelegenheiten, in denen sie sich als Bürger erlebten, stark aufgewertet, zum Teil neu geschaffen, jedenfalls weiter ausgebaut. Das waren neben den Unterabteilungen der Bürgerschaft, den Volksversammlungen und dem Rat die Feste."

Die bei den Großen Dionysien aufgeführte Tragödie sollte also auf die gesamte Bürgerschaft wirken. Die institutionalisierte Form, in der dies geschah, trug wesentlich dazu bei, den Tragödien-Agon im Rahmen des Dionysos-Festes zu einem für alle erreichbaren und sogar verpflichtenden Ereignis zu machen.

Im Mittelpunkt der Tragödie standen Taten und Leiden einer Gestalt des Mythos. Das Wesen der griechischen Tragödie war nicht dadurch geprägt, das Publikum - die Adressaten der Institution - durch neuartige und unbekannte Geschichten in Spannung zu versetzen, sondern die Tragödie stellte die persönliche Stellungnahme des Dichters zu einem bestimmten Thema des Mythos dar.

In diesem Zusammenhang war die dichterische Freiheit, bestimmte Personen überzubetonen oder Passagen hinzuzufügen, sehr groß. Dies gibt zum einen Hinweise darauf, daß es nicht um den genauen Wortlaut des Geschehens des Mythos ging, sondern vielmehr um dessen Bedeutung für die Gesellschaft des 5. Jh. - sozusagen um die aktuelle politische Dimension und Schwerpunktsetzung für die Zeitgenossen. Zum anderen dürfte die Möglichkeit des freien Ausgestaltens des Stoffes für die Autorität der Dichter - der maßgeblichen Akteure der Institution - sprechen, denen Modifikationen des Hergebrachten gestattet wurden.

Die Frage des Wahrheitsgehaltes stellte sich hierbei nicht. Der Mythos war im Verständnis der Zeitgenossen grundsätzlich wahr. Die Tragödie war somit im damaligen Verständnis die Vermittlung nicht von Fiktion sondern von Geschichte - die Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse.

Um auf die Dichter zurückzukommen, soll uns schließlich die Person des Sophokles als beweiskräftiges Bindeglied der gesellschaftlichen Bereiche dienen: Die intensive Beschäftigung dieser intensiven Persönlichkeit mit den Bereichen Politik, Religion, Dichtung in jeweils herausgehobener Stellung zwingt den Gedanken der Verknüpfung der drei Felder geradezu auf.

 

Tragödie ist für uns bis hierhin also politisch-gesellschaftliche Institution, die ernsthafte Inhalte mit hohem Wahrheitsanspruch vermittelte.

2.3 Ergebnis: Tragödie als Politikum

Welche Funktion hat nun die Tragödie für die Polis und den Einzelnen? Kann man von einer hohen politischen Bedeutung ausgehen?

Wir gehen davon aus. Wie bereits angesprochen, haben die Athener im 5. Jh. im Inneren wie nach außen alles in Bewegung und Unruhe versetzt. Und dies in dermaßen kurzer Zeit, daß sie selbst Mühe gehabt haben müssen, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Denn was bislang die Wirklichkeit gewesen war, bestand weitestgehend nicht mehr. Innen- wie außenpolitische Grenzen waren aufgelöst - der Beweglichkeit und den Möglichkeiten auf den ersten Blick keine Grenzen gesetzt.

Innenpolitisch wurde 461 der Areopag entmachtet. Die Bürgerschaft war danach allein verantwortlich für Athen. Unerwartete Handlungsspielräume taten sich auf, ein rasanter Wandel entstand. Es gab keinen Regierungsapparat im heutigen Sinne, keine Polizei, keine öffentlichen Schulen. Die Erziehung und damit die generationsübergreifende Weitergabe von Werten und Normen lag ausschließlich bei der Gesellschaft: im Kindesalter bei den Eltern, im jugendlichen und späteren Alter erfolgte sie durch den gesellschaftlichen Umgang. Alle Bürger waren einander Lehrer, wie Protagoras feststellte. Aber nicht nur in der Erziehung, sondern überall befand sich die Verantwortung allein und ausschließlich bei den Bürgern. Die neue Situation erforderte die Entwicklung neuer Maßstäbe für das Handeln und Zusammenleben. Die Demokratie brauchte Institutionen, die solche Maßstäbe vermitteln konnten.

Auch fehlte ihr der Halt in einem Weltbild. Zwar bestand ein übergreifendes verbindendes Element - die Bürgeridentität -, eine historisch-mythische Legitimation wie in damaliger Zeit üblich, gab es jedoch nicht. Diese sollte erst gefunden werden, jedoch nicht erfunden, sondern herausgefiltert aus dem Kreis der Sagen vorausgegangener Zeiten - eine sozusagen nachträglich Suche nach einer Legitimitätsgrundlage. Diese neue Grundlage dürfte zu einem guten Teil durch Adelsideale und deren mythologischen Hintergrund beeinflußt worden sein. Denn obwohl immer größere Teile der Bevölkerung in die Bürgerschaft einbezogen wurden, fand keine totale Verdrängung der ursprünglichen Herrschaftsträger statt. Das alte Adelsprinzip, die Gegenwart mittels der Vergangenheit und damit über Mythen zu legitimieren, blieb bestehen.

Die Bedeutung der alten Mythen in der Tragödie war für die Athener auch deshalb von großer Bedeutung, weil der Wandel innerhalb der Gesellschaft ein evolutionärer und kein revolutionärer gewesen war. Wie dargestellt, gingen Privilegien des Adels gepaart mit Idealen des Adels auf immer größere Teile der Bürgerschaft über. Die Gesellschaft befand sich also in einer Übergangsphase, in der das elitäre Denken noch, das egalitäre aber schon bestand. Die alte aristokratische Weltordnung war noch so in den Köpfen verwurzelt, daß die Bürger weiterhin der Bewunderung für große Helden fähig waren und um diese bangen konnten, während sie jedoch andererseits schon bereit waren, deren Sturz als Folge des Übermaßes hinzunehmen.

Im Zuge der rasanten Veränderungen mußten sich zwingend Fragen moralischer und religiöser Natur auftun; z.B. was bei einer „Narrenfreiheit" Athens gerade seinen Bündnispartnern gegenüber moralisch erlaubt oder gar geboten sei. Auch Generationskonflikte dürften im Zuge der sich sehr schnell verändernden gesellschaftlichen Bedingungen virulent geworden sein.

Hier greift unseres Erachtens die Tragödie ein.

Der Dichter beleuchtet Verhaltensmodelle, Hintergrund und Konsequenzen von Handlungen, anhand des Alten. Er regt sein Publikum damit zum Nachdenken an, macht ihm Dinge bewußt, erzieht es vielleicht auch. Er konnte das, weil er in der Polis eine Autorität darstellte. Zumal wenn er wie Sophokles auch noch mit anderen Ämtern versehen war, verkörperte er eine wesentliche Größe in der Polis, der Respekt und Achtung gezollt wurde. Denn während innenpolitische Veränderungen die Fluktuation der politisch aktiven Persönlichkeiten immer mehr erhöhten, behielten die Dichter ihre hervorragende Stellung während des gesamten 5. Jh.

Bis zum Aufkommen einer schriftlichen Niederlegung von geschichtlichen Ereignissen, erstmals durch Herodot, war der Dichter sozusagen der alleinige Geschichtsschreiber. Bis zu diesem Zeitpunkt war Geschichte stets nur mündlich von Individuum zu Individuum weitergegeben worden. Die Tragödien wurden öffentlich aufgeführt, schriftlich fixiert und erhoben für sich den Anspruch, wahres Geschehen darzustellen - konstituierten also Geschichte. Die Tragödie ist als Übergang von der subjektiven, privaten zur objektiven (für alle zugänglichen, öffentlich aufgeführten) Geschichtsvermittlung zu sehen.

Auch die Beschäftigung mit der Religion brach in der Tragödie in starkem Maße durch. Das „Götterproblem" mußte besonders deutlich und fast brutal zu Tage treten, wenn man sich das Götterbild der damaligen Zeit vor Augen führt. Für eine Bürgerschaft, die zwar ihrer moralischen Unsicherheit preisgegeben war, der jedoch innen- und außenpolitisch in ihrer Entfaltung keine Grenzen gesetzt waren, mußte das nicht vorherbestimmbare und unberechenbare Handeln der Götter ein stark bedrängendes Element dargestellt haben, das gleichzeitig die Grenzen des eigenen Könnens aufzeigte:

 

„Ihr ungebrochener Glaube an die Götter einerseits und die Erkenntnis ihrer Willkür andererseits wurde für sie zur Quelle einer schmerzlichen Zerrissenheit, die in der Tragödie ihren Ausdruck suchte."

Dies ist unter Berücksichtigung der Tatsache, daß damals eine wesentlich stärkere Bindung zwischen Religion und Politik bestand, ein Hinweis darauf, daß die Ausbildung der Tragödie mit der außerordentlichen Problematik der attischen Bürgerschaft in Verbindung stand.

Die Tragödie stellte unseres Erachtens das Podium einer Diskussion der gegenwärtigen Probleme mittels der Vergangenheit dar. Sie legte die mythische Vergangenheit aus. Jean-Pierre Vernant geht davon aus, daß die Tragödie die Gegenwart nicht spiegelte, sondern problematisierte.

Diese starke politische Gegenwartsdimension für die Zeitgenossen sieht auch Meier, der schreibt, daß die Tragödie ihre Hauptfunktion darin fand, daß das Neue immer wieder im Alten durchgespielt und mit dem Alten zusammengedacht wurde.

 

Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß der Dichter mit seinem Werk eine Art Korrespondenzglied zwischen den Unterabteilungen der Bürgerschaft, die oftmals noch ihre eigenen kultischen Riten pflegten, und der allen gemeinsamen, übergeordneten Polis bildete. Die in der Tragödie vermittelten Vorstellungen dürften nach den kleisthenischen Reformen zur Durchmischung der Bürgerschaft einerseits Ausfluß der Anschauungen bestimmter Unterabteilungen und deren Aufnahme durch den Dichter gewesen sein. Sie wirkten andererseits aber über die Zuschauer der Tragödie auf alle diese Kerngruppen zurück - hatten also für die einzelnen Unterabteilungen Anregungs- und Überprüfungsfunktion.

Zugleich brachte die Tragödie über das gemeinsame Erleben die einzelnen Teile der Bürgerschaft und die einzelnen Bürger einander näher. Die zusammen erfahrene Emotionalität bestärkte damit die Gleichheit.

Die Tragödie bereitete sozusagen den Boden für die Politik oder hatte für das „mentale Unterfangen" der Politik zu sorgen.

Die institutionalisierte Form der Tragödie als solche diente also wesentlich der Bestätigung des bürgerlichen Selbstbewußtseins und der Identitätsstiftung. In diesem Sinne hatte Tragödie eine Unterstützungsfunktion.

Die dort vermittelten Inhalte waren ein wesentliches Mittel, politische Auseinandersetzung in Gang zu bringen und Normen und Werte und damit sich selbst (den Bürger als Träger der politischen Ordnung und damit wiederum die politische Ordnung selbst) anhand der dargestellten Haltungen zu überprüfen.

Zum nächsten Kapitel!


©verfaßt von Christine und Andreas Schinzel -Germany (Berlin)- und zuletzt verändert am 6.Februar 1998

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